Mittelmeerroute:Nur noch weg

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In Libyen herrscht Chaos, trotzdem fliehen Zehntausende aus afrikanischen Ländern und aus Syrien dorthin. Sie hoffen, so leichter nach Europa zu gelangen.

Von Isabel Pfaff und Paul-Anton Krüger

Libyen war einmal ein gelobtes Land für viele Migranten in Afrika und im Nahen Osten. Öl bescherte Libyen Wohlstand, Zuwanderer fanden dort Arbeit. Aber seit dem Bürgerkrieg ist das vorbei. Viele Flüchtlinge, ob sie aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen geflohen sind, wollen nun nur noch weiter. Libyen ist nicht nur wegen seiner geografischen Lage zum wichtigsten Transitland für die Flucht über das Mittelmeer geworden, sondern auch wegen des politischen Chaos' im Land: Die Grenzen sind leicht zu überwinden. Zudem hat sich die Situation in vielen Herkunftsländern weiter verschlimmert.

Nach Zahlen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) kamen im ersten Quartal 2015 in Italien 1413 Menschen aus Gambia an, mehr als 1100 jeweils aus Senegal und Somalia, danach folgen Syrien, Mali, Eritrea und Nigeria. Die Zahlen stellen nur eine Momentaufnahme dar, allein in den vergangenen zehn Tagen sind wohl insgesamt weitere 15 000 Menschen über das Mittelmeer nach Europa gelangt. Auch wie viele Flüchtlinge aus welchen Ländern in Nordafrika auf die Überfahrt warten, kann niemand zuverlässig sagen, wie es bei der IOM heißt.

Syrien: Von dorther kamen schon 2014 die meisten Menschen in die EU; 122 790 beantragten nach den Zahlen der europäischen Statistikbehörde Eurostat Asyl, etwa ein Drittel von ihnen gelangte laut der IOM über das Mittelmeer nach Italien. Sie fliehen vor dem seit mehr als vier Jahren tobenden Bürgerkrieg. Mehr als die Hälfte aller Syrer hat ihre Heimat verlassen. 2014 war das schlimmste Jahr des Krieges, mehr Opfer, mehr Verletzte, mehr Vertriebene als je zuvor - und keine Aussicht auf Besserung. Das Regime und die Terrormiliz Islamischer Staat zermalmen alle lokalen Initiativen und Arrangements, die mancherorts ein Überleben möglich machten.

Ein Mann mit ägyptischem Pass an der Grenze zwischen Libyen und Tunesien. War Libyen einst Ziel vieler Migranten, ist es nun zum Transitland geworden. (Foto: Ciro Fusco/dpa)

Eritrea: Die größte Gruppe der Flüchtlinge, die die zentrale Mittelmeerroute nehmen, dürfte daher stammen. Das schmale Stück Land am Roten Meer gilt als eine der brutalsten Militärdiktaturen der Welt. Die meisten Menschen fliehen vor dem Militärdienst, der Jahre dauert, kein definitives Ende hat und vom Teenager bis zum Senioren die gesamte Gesellschaft betrifft. Präsident Isaias Afewerki schafft es sogar, die große eritreische Diaspora für sein Regime einzuspannen: Wer als im Ausland lebender Eritreer ein Dokument oder Hilfe von seiner Botschaft braucht, muss zwei Prozent seines Einkommens "Aufbausteuer" bezahlen. Diese Steuer ist eine der wichtigsten Geldquellen des Landes - und Staaten wie Deutschland haben diese Praxis bis heute nicht effektiv unterbunden.

Somalia: Nicht neu auf der Liste der häufigsten Flüchtlingsnationalitäten sind vom Krieg zerrüttete Staaten wie Somalia. Das Land hat seit dem Sturz des Diktators Siad Barre im Jahr 1991 praktisch keinen Frieden mehr gesehen. Zunächst bekämpften sich Warlords, dann gewannen islamistische Strömungen an Einfluss. Zwar gibt es seit 2012 wieder so etwas wie eine Regierung, doch die dschihadistische Al-Shabaab-Miliz kontrolliert noch immer weite Teile des Staatsgebiets. Zwischen Kämpfen und Terror ist nicht mehr viel Normalität möglich - zumal dann, wenn traditionelle Einnahmequellen wie der Fischfang unter ausländischen Trawlern leiden.

Mali: Das westafrikanische Land, einst stabiler Musterstaat mit demokratischer Fassade, bietet seinen Einwohnern inzwischen genügend Gründe zu fliehen. Im Norden, wo sich 2012 Tuareg-Rebellen gegen die Regierung erhoben, ist ein Machtvakuum entstanden. Regierungstruppen, Tuareg und Islamisten bekämpfen sich in wechselnden Bündnissen. Wer es aus diesem gefährlichen Gebiet ins ebenfalls unsichere Libyen geschafft hat, lässt sich vom Mittelmeer wohl kaum schrecken.

Nigeria: Inzwischen sind unter den Mittelmeerflüchtlingen auch immer mehr Menschen aus Afrikas bevölkerungsreichstem Land. Nigeria gehört eigentlich zu den Wirtschaftsriesen des Kontinents. Doch eine höchst ungleiche Verteilung des Ölreichtums und der brutale Feldzug der islamistischen Terrormiliz Boko Haram treiben seit einigen Jahren immer mehr Menschen zur Flucht.

Die jüngsten IOM-Zahlen nennen auch zwei weitere westafrikanische Staaten als bedeutende Herkunftsländer. Beide gehören nicht zu Afrikas Krisenstaaten - und zeigen deshalb, wie sich die Dynamik der Migration in den vergangenen Jahren verändert hat.

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Gambia: Der westafrikanische Ministaat ist politisch relativ stabil; er wird seit Mitte der Neunzigerjahre vom selben Präsidenten autoritär regiert. Doch das wirtschaftliche Potenzial ist gering. Junge Menschen - zwei Drittel der Gesamtbevölkerung sind jünger als 25 Jahre - haben hier kaum Aussichten, irgendwann einmal auf eigenen Füßen zu stehen.

Senegal: Die Situation ist ähnlich - ein Heer junger Menschen und eine Wirtschaft, die ihnen kaum Perspektiven bietet. Fischfang war einmal eine der wichtigsten Einkommensquellen, doch große Trawler aus EU-Staaten fischen die Bestände leer. Immer mehr Kleinfischer verlieren ihr Einkommen. Es sind Bedingungen wie diese, die junge Afrikaner zunehmend aus ihren Ländern vertreiben. Keine klassischen Asylgründe, doch eine Realität, der man sich in Europa nicht länger verschließen kann - und an der die EU ihren Anteil hat.

© SZ vom 21.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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