Neues Album von Tocotronic:Rot ist die Liebe

Tocotronic Das rote Album

Volle, weiche Haarschöpfe, auch nach 22 Jahren noch.

(Foto: Michael Petersohn; Universal Music)

Tocotronic haben ein ganzes Album über die Liebe gemacht. Und was soll man sagen? Es hat sich gelohnt. Die dreizehn Songs in der Einzelkritik.

Eigentlich erscheint das "Rote Album" von Tocotronic erst am 1. Mai. Und eigentlich hat es auch gar keinen Titel, sondern wird nur so genannt, weil es ein rotes Cover hat. Und weil Tocotronic doch schon heute alle Lieder per Vorab-Stream in die Welt hinausgeschickt haben, gilt auch das erste "eigentlich" dieses kleinen Einführungstextes nicht mehr so ganz. Das "Rote Album" in der Einzelkritik.

1. Prolog

Der perfekte Eröffnungssong, ein Lied voller Erwartung. Im Hintergrund pulsieren dumpfe Unterwasser-Bässe, Dirk von Lowtzow singt von Muscheln, Schalentieren und vom porösen Schwamm, aus dem wir gebaut sind. Darüber als Refrain ein verhalltes Ah-ah-ah. So klingt ein einsames Sonargerät, das nichts sucht, sondern das Wichtigste längst gefunden hat. Beim "Du", das er ansingt, ist das anders: "Du zitterst noch und hörst in dich hinein: was könnte das Ereignis sein?" Das Sonargerät weiß es und sagt es auch: "Liebe wird das Ereignis sein." Kathleen Hildebrand

2. Ich öffne mich

Ganz leicht und melodiös, fast heiter geht es weiter. Das Thema ist gesetzt: die Liebe. War ja klar - ein arbeiterfahnenrotes Album, das am 1. Mai erscheint, natürlich geht es bei Tocotronic, den großen Verrätselungskünstlern, dann gerade nicht um Politik. Oder doch? "Ich öffne mich gänzlich für dich", singt von Lowtzow zu nervös flirrenden Gitarren, "öffne die Grenzen für dich": Damit das Wir gelingt, ob politisch oder privat, muss das Ich sich verletzlich machen. Kathleen Hildebrand

3. Die Erwachsenen

Ein junger Mann im Pyjama sitzt am Küchentisch und spielt Gitarre. Das Bild ist zwanzig Jahre alt, es stammt aus dem Musikvideo zu "Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk". Im aktuellsten Clip seiner Band trägt dieser Dirk das Haar etwas grauer, er singt nicht mehr am Küchentisch im regnerischen Hamburg, sondern in einem gut beleuchteten Loft in Berlin. Er singt "Man kann den Erwachsenen nicht trauen." Das Nicht-Dazugehören ist nicht mehr räumlich, sondern zeitlich zu verstehen. Dazu inszeniert Alexa Karolinski Bilder junger Menschen in Berlin-Mitte. Sie tanzen, knutschen, rauchen. Anders als die Nicht-Seattle-Hamburger des Jahres 1995 tragen die Nicht-Erwachsenen Berliner des Jahres 2015 keine Instrumente, sondern Smartphones. Dazu singt das Nicht-Baby Dirk von Lowtzow sehr melodisch "Wir sind Babys". Genau wie er damals nicht in Seattle war, ist er heute kein Jugendlicher mehr. Der Gestus des Nicht-Dazugehörens und des Nicht-Einverstandenseins, bleibt erhalten - in anderen Worten und Bildern, aber in gleicher Intensität:"Wir sind Babys", so sagen Tocotronic im Jahr 2015, "so wollen wir es doch nicht haben." Dirk von Gehlen

4. Rebel Boy

Hach. Der Boy... Wenn der Mann Sex will, will der Boy lieber knutschen. Wo der Mann Bart hat, hat der Boy Flaum. Während der Mann schon kahl wird, hat der Boy eine volle, weiche Mähne. Der Mann legt sich die beste flasche Whiskey in den Einkaufswagen, der Boy kramt an der Kasse sein Kleingeld zusammen und will einfach keinen Frieden machen mit Büro-Fahrradtour-Pärchenabend. "Ich will keine Treueherzen, kannst du mir Liebe geben," singt von Lowtzow. Der Boy bleibt Boy. Auch im Discounter. Dass die Textzeilen "Ich werde nicht gebraucht", "Ich erwarte eine Zeit der Zärtlichkeit" und "Kannst du mich befreien" klingen wie recycelte Fetzen der vorigen Alben, wirkt zwar ein bisschen allzu wohlig. Doch dafür überzeugen die Toco-Frisuren: Wirklich, wirklich volle Mähnen, weich und glänzend, auch nach zwanzig Jahren noch. Nadia Pantel

5. Chaos

Gemütlich stampft das Schlagzeug, wie ein Zug auf dem Weg durch die Nacht. In Wahrheit geht es über die Autobahn, zu schnell, auf dem Weg in ein Liebeslager. Ja, tatsächlich. Exakt 20 Jahre nach "Über Sex kann man nur auf Englisch singen" gibt es ein Tocotronic-Lied genau darüber. Über Sex. So eindeutig, wie diese Band es eben gerade noch mit sich vereinbaren kann: "Unter deiner Decke/Ein freundlicher Empfang". So geht es. Sogar auf Deutsch. Kathleen Hildebrand

6. Solidarität

Ein leises aber umso dröhnenderes Schlachten-Lied. Tocotronic stellen sich auf eine Seite. Die richtige. Und kämpfen. Sie kämpfen für die, die unter Spießbürgern Spießruten laufen, auf der Seite derer, die von der Herde angestiert werden. Die, "mit irren Fratzen konfrontiert", nicht mehr weiter wissen. Sie alle bekommen Solidarität von Tocotronic. Die Gitarre hingezupft, ein paar abgerissene Streicher, das reicht für eindringliches Nachhallen. Eine spezielle Art des Individualismus wird hier besungen: Individualismus, der aus dem Bewusstseins der eigenen Einsamkeit entsteht. Sebastian Gierke

7. Spiralen

Fast kinderliedhaft, gut zum Einschlafen vorsingbar ist dieses Lied: "Ich drehe mich/In Spiralen/Sie kreisen um dich". Und die melancholisch-müden Trompetentöne am Ende singt Dirk von Lowtzow einfach mit, schon ganz traumverloren: "Babababa-Baba". Gut möglich, dass man am Ende anfängt zu gähnen. But in a good way. Kathleen Hildebrand

8. Sie irren

Den ewig jungen, nie einverstandenen Tocos wollten die anderen ja schon immer was erzählen. Vergeblich war das, und vergeblich ist es noch: "Sie irren", raunt es verschwörerisch in diesem kürzesten Lied der Platte, jede Silbe ein Schlagzeugschlag: Das Herz gehört nicht ghettoisiert. Und woran es leidet, was es liebt, all der "Müll", nicht weggeschafft. Kathleen Hildebrand

9. Haft

Ein böser, desillusionierender Song. Die Idee der wahren, tiefen, romantischen Liebe wird über leicht federnden Akkorden zerrupft. "Wir sind uns fremd, doch gibt es nichts, was uns trennt." Die Liebe als Hingabe an den anderen, die Liebe, die jede Sicherheit zerstört, die Liebe als Risiko: in "Haft" ist davon nichts mehr übrig. Hier ist es nicht die Leidenschaft, die zwei Menschen vereint, sondern das aneinander Haften aus Bequemlichkeit, Gewohnheit, Mitleid. "Ich hafte an dir, wie eine Zecke an einem Tier." Sebastian Gierke

10. Zucker

Hui, wenn Tocotronic je verdächtigt werden konnten, sich an dem Genre "Sommerhit" zu versuchen, dann jetzt. Mit diesem kristallinen, melodischen Stück Pop, wie für die Eiswerbung gemacht: "Du bist aus Zucker, du bist zart/ Du schmilzt dahin, du wirst nicht ha-art". Inhaltlich ist "Zucker" eine Variation auf "Neue Zonen" vom letzten Album, die Hymne auf das Weichsein, die "Plüschophilie". Doch das funktioniert eben am besten aus der Ich-Form erzählt, als Erzählung vom Verletzlichsein, als Bekenntnis. Auf ein Du gewendet wirkt das eher tätschelnd, da hilft auch das nachgeschobene "Dein süßer Ärger ist Energie" nicht mehr. Kathleen Hildebrand

11. Jungfernfahrt

Dass das neue, rote Album an vielen Stellen ein Blick zurück ist, das wird spätestens in diesem verhallten Lied klar. Ein Gewitter scheint über ihm zu dräuen, alles ist zeichenhaft, mit rätselhafter Bedeutung aufgeladen: "Ich seh' die Löcher der Kaninchen/Wenn ich die alte Strecke fahr'". Um Erinnerung geht es hier, um die Jugend und darum, wie gefährdet sie ist - vom Bösen, von der Welt. "Jungfernfahrt" ist voll von Kinderworten, "Geburtstag", "Cap und Capper", "BMX". Man fühlt sich zurückversetzt auch in die alten Toco-Songs, als noch alle Lieder mit "Ich" begannen und dieses Ich an letzten Sommerferientagen im nassen Gras in einem Schrebergarten saß und wartete. Und ja, auch "Jungfernfahrt" ist ein Liebeslied. Ein Erste-Liebe-Erinnerungslied. Kathleen Hildebrand

12. Diese Nacht

Ein kluges Schlaflied mag die Nacht lieber als den Tag. "Diese Nacht" ist ein kluges Schlaflied. Ein sanftes, leises, feines Schlaflied - das sich dolle vollgesogen hat mit Novalis-Romantik. Die wahre Flucht führt nicht in ferne Länder, sondern in die Nacht, ins Dunkle, in den Wald. Dorthin wo nicht Grenzen die Reise strukturieren, sondern das Knacken der Äste und das Schnaufen der Tiere den Rhytmus des Erkundens vorgeben. Und damit das nicht zu arg gruselig wird, so ganz allein unterm Mond, ist da noch das Du. Das tröstende Du, das die Bettdecke feststeckt. Und fast so schön wie ein warmes Bett, mitten im dunklen Wald, ist die erste Textzeile: "Ich schließe meine Augen, und ich öffne sie der Nacht." Nadia Pantel

13. Date mit Dirk

Rückwärtsbotschaften, Index-Lücken, versteckte Tracks: Alles so herrlich aus der Zeit gefallen. Wie soll man denn bei Youtube oder Spotify Musik verstecken? Und viel wichtiger: Warum sollte man das überhaupt wollen? "Ich hab ein Date mit Dirk am ersten Frühlingstag, ich will wissen, ob er mich noch mag", empfängt uns der Hidden Track auf dem Roten Album. Man ist zu zweit mit Dirk von Lotzow in diesem Song voller Todessymbolik ("seine Adern gehen auf"), Selbstauflösung ("Plasma wächst aus Dirks Hand") und seltsamer Substanzen ("betrunken vom Löwenzahnwein"). Wir lernen: Am Ende seines Werks verschwindet also der Künstler, nachdem er sich noch eine Nacht Zeit für uns genommen hat. Uns bleibt, nach einem ganzen Album über die Liebe, bloß eine geschwollene Zunge und von Mücken zerstochene Beine. Und die Erinnerung an ein Date, das irgendwie aus dem Ruder gelaufen ist. Das trifft den Eindruck nach dem ersten Durchhören dieser Platte ziemlich genau. Wolfgang Luef

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: