Justiz:Mörder und andere Menschen

Justiz: Uwe Nettelbeck: Prozesse. Gerichtsberichte 1967 - 1969. Hrsg. von Petra Nettelbeck. Suhrkamp Verlag, 2015. 188 S., 19,95 Euro.

Uwe Nettelbeck: Prozesse. Gerichtsberichte 1967 - 1969. Hrsg. von Petra Nettelbeck. Suhrkamp Verlag, 2015. 188 S., 19,95 Euro.

Uwe Nettelbeck war ein begnadeter Gerichtsreporter. Seine grandiosen Reportagen sind nun neu erschienen.

Von Heribert Prantl

Nirgendwo sonst auf der Welt erlebt man das Unglück, die Verzweiflung und den Zweifel so konzentriert und so kalt gepresst wie im Gerichtssaal. Nirgendwo sonst ist die Bühne des Schicksals so fahl ausgeleuchtet wie in der Großen Strafkammer. Dort, wo Mord und Totschlag verhandelt werden, erfährt man die Brüchigkeit menschlicher Existenz. Oft bekommt dort das Wort "Kapitaldelikt" einen ganz besonderen Sinn, weil es um Situationen geht, in denen das Menschliche kapituliert hat - nicht selten schon lange vor der Tat.

Im Strafprozess werden Straftaten ausgemessen mit den Paragrafen des Strafgesetzbuchs. Die Richter machen das bisweilen sehr penibel, bisweilen recht schlampig. Oft zeigt sich, dass diese Paragrafen keine sehr guten Maßstäbe sind, dass es aber keine besseren gibt. Oft reichen sie nicht weit, sie taugen nicht, um die Abgründe des Alltags auszumessen; aber für ein Urteil reichen sie immer.

"Das Strafgesetz ist nicht für einen, sondern für alle da. Nur trifft es eben immer einen Menschen, der keinem anderen gleicht, und richtet es stets über einen Fall, der ohne Beispiel ist." Uwe Nettelbeck schreibt das am Ende seines Textes über den Fall des Malergesellen Eckart Mellentin, der zum Doppelmörder wurde. Es sind dies die letzten zwei Sätze dieses Berichts, der so beginnt: "Am Abend des 6. Oktober 1965 tötete der damals vierundzwanzigjährige Malergeselle aus Hamburg-Eppendorf, daran ist nicht mehr zu zweifeln, in seinem Mercedes 190 seine dreiunddreißigjährige Geliebte, die Redressiererin und spätere Sekretärin Ingrid Griebau, und den acht Monate alten Thorsten, ihr gemeinsames Kind." Zwischen diesem dürren ersten Satz und den zitierten zwei letzten Sätzen entfaltet Nettelbeck die menschliche Tragödie - das Drama eines jungen, fleißigen Mannes, der zwischen zwei Frauen steht, sich für eine entscheiden musste.

Aber dieser Eckart Mellentin hat es nicht versucht, die Fäden zu entwirren in einer für ihn unerträglichen Situation. Der Gerichtsreporter schreibt: "Er wehrte sich, aber so radikal und unbeholfen auch, wie sich nur Menschen wehren, denen der Verstand nicht gegeben ist, den der Mensch so nötig braucht, um zwischen Erdulden und Raserei den Weg zu finden."

Dieser Satz zeigt die Meisterschaft des Gerichtsreporters Uwe Nettelbeck. Er schreibt Texte, die dort anfangen, wo die heute so populären, kalten Kriminalgeschichten des Schriftstellers und Strafverteidigers Ferdinand von Schirach aufhören. Es sind Texte, die versuchen, in die Abgründe zu schauen, Erklärungen zu finden. Aber Nettelbeck weiß auch: Alle Erklärungen erklären das eine nicht - die Unwiderruflichkeit des Mords. Uwe Nettelbeck ist 2007 im Alter von 67 Jahren gestorben. Das vorliegende Buch sammelt seine Gerichtsberichte, die in den Jahren 1967 bis 1969 erschienen sind.

Was rechtfertigt die Publikation von jahrzehntealten Artikeln? Wer nur die erste Reportage gelesen hat, die vom Schicksal des Mörders Mellentin handelt, der fragt nicht mehr - der liest weiter, immer weiter, gefesselt von der Meisterschaft des Gerichtsreporters; man liest den Text über den Prozess gegen den "Kirmesmörder" Jürgen Bartsch und den Text zum Frankfurter Kaufhausbrandprozess gegen Andreas Baader und Gudrun Ensslin, man liest über Prozesse, die immer noch zu den spektakulärsten der Nachkriegszeit zählen und über solche Prozesse, die längst vergessen sind. Man liest Texte, die sich manchmal verlieren in den Details und in eher spinösen Überlegungen - die aber immer zum Besten gehörten, was je auf dem Gebiet der Gerichtsreportage in deutscher Sprache erschienen ist.

Die gute Gerichtsreportage ist kein angeschärfter Polizeibericht, keine publizistische Kanonade gegen den Angeklagten. Sie ist ein Sozialreport aus dem Gerichtssaal. Nettelbeck hält es mit Paul Schlesinger (Sling), dem in der Weimarer Zeit berühmten Reporter der Vossischen Zeitung. Er steht auf der Seite der Angeklagten, ohne sich mit ihnen gemein zu machen, er gibt ihrer Stummheit eine Sprache, er beschreibt, erschreckt und verstört, den Weg, den sie bis zur Tat genommen haben. Nettelbeck ist kein Mörderversteher, er ist ein Menschenversteher. Das macht aus seinen Artikeln journalistische Kunstwerke.

Nettelbeck empörte sich über den Justizapparat und seine bisweilen aggressive Tumbheit

Nettelbeck war knapp dreißig Jahre alt, als er diese Gerichtsreportagen geschrieben hat. Er war ein Frühbegabter; sein Aufstieg in den Himmel des Journalismus war kometenhaft; Gerhard Mauz vom Spiegel brachte ihn dazu, Gerichtsberichte zu schreiben. Es wurden nicht sehr viele - denn Nettelbeck geriet bald in Konflikt mit seinem Chef Theo Sommer, der damals stellvertretender Chefredakteur der Zeit war, und dem es gar nicht gefiel, wie sein junger Gerichtsreporter die Justiz als Klassenjustiz beschrieb und sich über den Justizapparat und dessen bisweilen aggressive Tumbheit empörte. Das kulminierte in seinem Text über den Frankfurter Kaufhausbrand-Prozess, den er als "Inszenierung" bezeichnete, mit der "sich die herrschende Ordnung gegen den Versuch verteidigt, sie abzuschaffen".

Im Henrik Ghanaats glänzendem Nachwort zum Buch erfährt man, wie es zum Ende des Gerichtreporters Nettelbeck kam: Theo Sommer hatte Nettelbeck nach einem Bericht über die Verurteilung des demonstrierenden Theologie-Studenten Christian Boblenz vorgeworfen, er habe "stupide APO-Floskeln" hergebetet, Gerichtsberichte aus seiner Feder werde er künftig "sehr genau im Manuskript betrachten". Nettelbeck kündigte sofort, zog sich dann in die Lüneburger Heide und später in ein französisches Dorf zurück, wurde Produzent der Krautrock-Gruppe Faust; der Schriftsteller Nettelbeck publizierte dann, weit abseits vom Mainstream, wunderbare und wunderliche Texte - unter anderem in seiner unregelmäßig, aber zweimal im Jahr erscheinenden Zeitschrift Die Republik, in der er es sich im Impressum vorbehielt, Abonnenten das Abonnement zu verweigern. Das Buch mit seinen Gerichtsberichten setzt ihm nun ein Denkmal.

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