Soziologin über Amerikas Polizei:"Die Cops treten auf wie eine Besatzungsarmee"

Tensions In Baltimore Continue To Simmer After Days Of Riots And Protests Over Death Of Freddie Gray

Die Polizei versucht, in Baltimore für Ruhe zu sorgen, doch viele sehen sie und ihr Verhalten gegenüber Afroamerikanern als Wurzel des Übels.

(Foto: AFP)

Alice Goffman lebte sechs Jahre als Weiße in einem Schwarzen-Viertel in Philadelphia. Dort erlebte sie, wie die Polizei die Menschen täglich drangsaliert. Nun schreibt sie dagegen an - und freut sich auch über Republikaner als Verbündete.

Von Matthias Kolb, Madison/Wisconsin

SZ: Wie kam es dazu, dass Sie als Studentin in ein Schwarzen-Viertel in Philadelphia gezogen sind?

Alice Goffman: Ich habe 2002 begonnen, einer 15-jährigen Afroamerikanerin Nachhilfe zu geben. Ich mochte Aishas Familie und als mein Mietvertrag endete, schlug die Familie vor, eine Wohnung in ihrem Viertel zu mieten. Ich war eine der wenigen Weißen in dieser Gegend, 98 Prozent der Bewohner sind schwarz. Nachdem ich Aishas Cousin Reggie und desse Freunde kennengelernt hatte, beschloss ich, meine Abschlussarbeit in Soziologie über deren Alltag zu schreiben.

Alice Goffman

Alice Goffman wurde 1982 geboren und zog während ihres Soziologie-Studiums in Philadelphia in ein Schwarzen-Viertel der US-Großstadt, in dem sie sechs Jahre lebte. Der Gegend gab sie den fiktiven Namen 6th Street. Ihre Beobachtungen und Forschungsergebnisse veröffentlichte sie in ihrer Doktorarbeit, die unter dem Titel "On the Run" 2014 in den USA veröffentlicht und von Kritikern hoch gelobt wurde. Im Frühjahr 2015 erschien die deutsche Übersetzung. Goffman unterrichtet mittlerweile Soziologie als Assistenz-Professorin an der University of Wisconsin in Madison.

Was war damals für Sie die größte Herausforderung?

Es hat lange gedauert, bis ich die Sprache und kulturellen Codes von Reggie und seinen Freunden Mike und Chuck verstanden habe. Neu war auch die Dauerpräsenz der Polizei. Ich musste alles vergessen, was ich zuvor über Polizei und Strafverfolgung wusste. Ich bin in einem weißen, ziemlich reichen Viertel in Philadelphia aufgewachsen. Dort sah ich die Polizei selten. Wenn ich sie bemerkt habe, dann dachte ich: "Aha, da sind Polizisten. Bei Problemen kommen sie und helfen mir." In Schwarzen-Vierteln treten die Cops hingegen wie eine Besatzungsarmee auf.

Was haben Sie damals beobachtet?

Mein Forschungsprojekt war eine teilnehmende Beobachtung, ich war also dauernd in einem Umkreis von vier Straßenblocks unterwegs und machte mir Notizen. In den ersten 18 Monaten gab es nur fünf Tage, an denen ich nicht beobachtet habe, wie die Polizei Ausweise kontrollierte, Leute durch die Straßen verfolgte oder Häuser durchsuchte. Dabei gibt es in Philadelphia Viertel, die noch ärmer sind und wo es noch viel mehr Drogenprobleme gibt. 14 Mal sah ich, wie Polizisten junge schwarze Männer gewürgt, geschlagen und getreten haben, nachdem sie ihnen Handschellen angelegt hatten. Diese Jungs gehen danach nicht mehr zur Schule, sie sitzen vor Gericht. Sie reden nicht mit Lehrern, sondern mit Bewährungshelfern. Diese Zwei-Klassen-Justiz hat katastrophale Folgen.

Was meinen Sie mit Zwei-Klassen-Justiz?

Die Vergehen, wegen der junge Schwarze ihre erste Vorstrafen kassieren, haben bei meinen weißen Freunden aus der Highschool oder vom College keinerlei Folgen. Ich rede vom Besitz von kleinen Mengen an Drogen oder von Schlägereien. Wenn die Polizei auf einem Uni-Campus so oft kontrollieren würde wie in der 6th Street, dann hätte dort auch jeder Zweite einen Eintrag in der Akte. Und wer vorbestraft ist, für den ist es nahezu unmöglich, einen Führerschein zu machen, eine Sozialwohnung zu kriegen oder einen Job zu finden. Darf ich ein Beispiel erzählen?

Alice Goffman

Alice Goffman erlebte in Philadelphia, wie Afroamerikaner von der Polizei drangsaliert werden.

(Foto: Privat)

Natürlich.

Chuck, einer meiner Freunde, wuchs bei seiner drogensüchtigen Mutter auf, aber er schaffte es ins letzte Jahr der Highschool. Dann nannte ein Klassenkamerad Chucks Mom eine "Crack-Hure", worauf er dessen Gesicht in den Schnee drückte. Am nächsten Tag geht es dem Mitschüler wieder gut, doch Chuck wird wegen schwerer Körperverletzung angeklagt. Er sitzt ein Jahr im Gefängnis, weil er die Kaution nicht zahlen kann. Die Anklage wird fallengelassen, doch seinen Abschluss darf er nicht machen, weil er mit 19 nun zu alt ist. An meiner Schule wird so ein Vorfall ohne Polizei gelöst und niemand landet im Knast. Chuck war also arbeitslos und vorbestraft, weil er die Gerichtsgebühren nicht rechtzeitig gezahlt hat. Er kann jederzeit verhaftet werden und ist ständig on the run. Ähnliche Erfahrungen kennen fast alle Afroamerikaner aus ihrer Familie.

Ist es die Wut über diese Behandlung, die so viele Schwarze seit dem Tod von Mike Brown in Ferguson im August nun auf die Straßen treibt?

Überall in den USA protestieren Amerikaner dagegen, dass die Polizei routinemäßig brutal gegen Arme und vor allem gegen Schwarze und Latinos vorgeht. Lange wurde nicht öffentlich darüber diskutiert, dass kein Industrieland jemals mehr Bürger weggesperrt hat als die USA. Drei Prozent aller Amerikaner stehen unter Aufsicht der Justizbehörden und 30 Prozent aller schwarzen Männer ohne Uni-Abschluss waren mit 30 schon mal im Gefängnis. Es ist schrecklich, wenn einzelne Randalierer wie zuletzt in Baltimore die friedlichen Proteste stören, aber ich glaube nicht, dass die Anliegen der Demonstranten dadurch diskreditiert werden.

Obama hat auf die Randale in Baltimore mit einer 14-minütigen Rede reagiert und gesagt, dass die US-Gesellschaft in sich gehen müsse, um dieses Problem zu lösen. Es gehe nicht nur um Polizeimethoden, sondern auch um Bildungsfragen. Wie fanden Sie seine Aussagen?

Ich fand die Rede sehr gut. Man merkt, dass Obama wirklich darüber besorgt ist, dass die USA zu viele Menschen inhaftieren und zu wenig in die communities der Schwarzen und Latinos investieren. Es geht wirklich nicht nur um Polizeiarbeit. Als ich im Viertel rund um die 6th Street gelebt habe, habe ich gemerkt, was es für schwarze Kinder bedeutet, dass ein Afroamerikaner Präsident ist. Das signalisiert ihnen, dass auch für sie vieles möglich ist.

"Ich war in sieben Jahren bei 19 Beerdigungen"

Haben Obama und seine Regierung denn genug getan, um das US-Justizsystem zu reformieren?

Es wird oft übersehen, dass unter Obama die Zahl der Leute, die ins Gefängnis gesteckt werden, zurückgegangen ist - erstmals seit 40 Jahren. Eric Holder, der langjährige Justizminister, hat offen über Rassismus gesprochen und dafür gekämpft, die Mindeststrafen zu senken. Sein Ministerium hat viele Vergehen in Polizeibezirken untersucht, nicht nur in Ferguson. Ich hoffe, dass seine Nachfolgerin Loretta Lynch hier weitermacht. Allerdings kann der Präsident nicht allzu viel machen: Es sind die Bundesstaaten und die Bezirke, die die meisten Gefängnisstrafen verhängen.

Wann fingen die Behörden an, insbesondere gegen Afroamerikaner so hart vorzugehen und so viele Bürger ins Gefängnis zu stecken?

Bis vor etwa 40 Jahren haben die USA nicht mehr Bürger inhaftiert als Westeuropa. Heute sind es acht Mal so viele wie in Deutschland. In den Siebzigern wuchs die Kriminalität vor allem in den Städten, es gab viele Proteste und ein Gefühl der Unsicherheit. Es begann der "Krieg gegen das Verbrechen" (War on Crime), mit härteren Mindeststrafen. In den Achtzigern tauchte dann Crack-Kokain auf, und der "Krieg gegen die Drogen" (War on Drugs) wurde ausgerufen. Alle Politiker, egal ob Demokraten oder Republikaner, mussten Härte beweisen. Unter Clintons Präsidentschaft wurden Milliarden investiert, die Zahl der Polizeibeamten in Philadelphia verdoppelte sich. Der Ansatz war klar: "Wir bringen möglichst viele hinter Gitter und werfen den Schlüssel weg."

Die Botschaft an die Cops auf der Straße lautet also: "Verhaftet so viele Leute wie möglich!"

Genau, seit den Neunziger Jahren gibt es ein Statistik-Programm namens CompStat, das zuerst in New York und dann in ganz Amerika eingesetzt wurde. Alles dreht sich plötzlich um Zahlen, aber es werden nicht die Beamten befördert, in deren Viertel es sicherer wird. Befördert wird, wer die meisten Verhaftungen macht. Wir brauchen aber Polizisten, die der Gesellschaft wirklich helfen wollen, und die an die Würde und das Potenzial von Afroamerikanern glauben, insbesondere von jungen schwarzen Männern.

Ihr Buch "On the Run" beschreibt sehr genau, dass in den ärmeren Vierteln alle unter der Dauerpräsenz der Polizei leiden. Betroffen sind auch Frauen und Kinder.

Eine der ersten Szenen, die ich nach meinem Umzug beobachtet habe, war folgende: Zwei Jungs, vielleicht fünf und sieben Jahre alt, spielen Fangen. Der ältere stößt den anderen zu Boden, legt ihm virtuelle Handschellen an. In der Tasche findet er einen Vierteldollar und ruft: "Den beschlagnahme ich. Ich sperre dich ein, so dass du nie mehr nach Hause kommst." Im Viertel rund um die 6th Street waren alle ständig unter Stress. Kinder wachsen ohne Väter auf und ältere Brüder zeigen den jüngeren, wie man vor den Cops wegrennt. Auch Freundschaften, Liebe und Partnerschaften werden beeinträchtigt: Die Polizei drangsaliert Mütter und Freundinnen, die Verstecke von Söhnen und Lebenspartnern zu verraten.

Sie haben Ihre Forschungen als Doktorarbeit veröffentlicht und unterrichten mittlerweile an der University of Wisconsin in Madison. Warum sind Sie immer noch so aktiv?

Für mich ist das Thema sehr persönlich. Ich war innerhalb von sieben Jahren bei den Beerdigungen von 19 jungen Männern - Chuck war einer von ihnen. Als meine schwarzen Freunde von Polizisten erschossen wurden, da gab es keine Demonstrationen. Wir haben im Privaten getrauert. Ich gehe auch zu den Demonstrationen, um jene zu ehren, deren Tod keine Proteste ausgelöst hat. Zurzeit bin ich fünf Tage pro Woche in ganz Amerika unterwegs, um junge Leute vor der nächsten Wahl zu erinnern: "Das ist das Bürgerrechtsthema eurer Generation. Macht was draus und sorgt dafür, dass sich die Politiker darum kümmern."

Vieles spricht dafür, dass das Thema im beginnenden Wahlkampf eine wichtige Rolle spielen wird. Hillary Clinton hat gerade eine Rede dazu gehalten und auch viele Republikaner wollen das Strafsystem reformieren. Was treibt die Konservativen an?

Hier gibt es drei Gruppen. Die erste sind die Libertären, für die der Senator Rand Paul steht. Sie sind überzeugt, dass eine Gefängnisstrafe nur in allerschlimmsten Fällen nötig sein sollte, weil der Staat den Bürger in Ruhe lassen soll. Außerdem sehen sie das System der permanenten Überwachung für die Millionen Menschen, die auf Bewährung sind, sehr skeptisch. Daneben gibt es die Fiskalkonservativen ...

... die glauben, dass sich die USA die überfüllten Gefängnisse nicht mehr leisten können.

Genau, New Jersey gibt jährlich pro Häftling 60 000 Dollar aus, in New York sind es 80 000 Dollar. Diese Summen sind verrückt, weil die Kriminalität trotz der massenhaften Inhaftierung dadurch nicht spürbar sinkt und die Häftlinge auch nicht resozialisiert werden. Die dritte konservative Gruppe sind die evangelikalen Christen, die an Vergebung glauben. Sie wollen Ex-Häftlingen eine zweite Chance geben und sind überzeugt, dass Gott sie auf den rechten Weg führt. Die Republikaner stehen mir zwar fern, aber ich freue mich über jeden Mitstreiter, der hilft, dass die US-Gesellschaft dieses riesige Problem endlich löst.

Das Buch "On the Run. Die Kriminalisierung der Armen in Amerika" ist seit kurzem auch in der deutschen Übersetzung beim Kunstmann Verlag erschienen. Es kostet 22,95 Euro.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: