Großbritannien:Wahl oder Revolution

A journalist standing in Downing Street holds cardboard cutouts of Britain's Prime Minister David Cameron and Ed Miliband, the leader of the opposition Labour Party, in central London

In der Hand des Wählers: Die absolute Mehrheit der Stimmen wird aller Voraussicht nach keiner der beiden für sich gewinnen können: Ed Miliband (lins), Kandidat der Labour-Partei und David Cameron, amtierender konservativer Premierminister

(Foto: REUTERS)

Wenn die Briten am Donnerstag wählen, geht es nicht nur um den nächsten Premier. Entschieden wird über das politische System, das Mehrheitswahlrecht und die Regierbarkeit des Landes.

Kommentar von Christian Zaschke

Ungerührt verkündet der britische Premierminister David Cameron wieder und wieder, dass er davon ausgehe, bei den Unterhauswahlen am 7. Mai die absolute Mehrheit zu erringen. Sein Herausforderer, Labour-Chef Ed Miliband, wiederholt ebenso beständig, dass seine Partei es sein werde, die diese Mehrheit erreiche. Das ist einerseits ihr gutes Recht als Wahlkämpfer. Andererseits geht es so sehr an der politischen Realität vorbei, dass es fast schon lächerlich wirkt.

Sämtliche Umfragen sagen voraus, dass sowohl Tories als auch Labour von einer absoluten Mehrheit weit entfernt sind. Beide Parteien liegen bei rund 33 Prozent der Stimmen. Das bedeutet: Wer regieren will, muss Bündnisse eingehen. Dennoch tun beide Parteien so, als sei das im System nicht vorgesehen. Sie schließen Koalitionen und Absprachen kategorisch aus, obwohl allen Beteiligten im politischen Betrieb klar ist, dass am Morgen nach der Wahl die Verhandlungen über Koalitionen und Absprachen beginnen müssen. Einzige Alternative wären rasche Neuwahlen, und es stünde nicht zu erwarten, dass sich dann etwas an den unklaren Mehrheitsverhältnissen ändern würde.

In Deutschland ist die Koalition die normale Form der Regierung. In Großbritannien war das lange fundamental anders. Das Mehrheitswahlrecht sorgte dafür, dass seit dem Zweiten Weltkrieg bis 2010 stets eine Partei allein regieren konnte. Dass die Konservativen 2010 keine absolute Mehrheit erreichten und eine Koalition mit den Liberaldemokraten eingehen mussten, gilt nicht wenigen Tories bis heute als eine Art Versehen, das nur zustande kam, weil die Wähler sich irgendwie geirrt hatten. Aber bekanntlich irren die Wähler nie.

Das britische Wahlsystem wankt, es geht nicht nur um den Premier

Jüngsten Prognosen zufolge könnten die Konservativen ein paar wenige Sitze mehr als Labour gewinnen. Das hieße gemäß traditionellem Verständnis, dass David Cameron Premier bliebe. Nach Lage der Dinge ist es aber vorstellbar, dass Ed Miliband Premier wird, obwohl er nicht Chef der stärksten Fraktion ist. Das liegt daran, dass die linksliberale Scottish National Party (SNP) voraussichtlich drittstärkste Kraft wird und angekündigt hat, Miliband zu unterstützen, falls man gemeinsam auf eine Mehrheit komme.

Miliband schließt eine offizielle Koalition aus, möglich ist aber, dass er sich von der SNP als Chef einer Minderheitsregierung dulden lässt. Die Tories hätten in dieser Konstellation die Wahl gewonnen und trotzdem keinen Zugriff auf die Macht. Das könnte zu einem fundamentalen Wandel im politischen System Großbritanniens führen. Die politische Kultur wäre erschüttert.

Diese Wahl könnte eine Zeitenwende bedeuten, was in einem ersten Schritt hieße, dass die Koalition de facto auch in der britischen Politik der Normalfall wird. Wenn sich aber, wonach es derzeit aussieht, trotz Mehrheitswahlrechts ein Parlament der vielen Parteien ausbildet, wäre als zweiter Schritt die Einführung des Verhältniswahlrechts die logische Option. Und das wäre nun wirklich eine Umwälzung der politischen Ordnung Großbritanniens.

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