Gesellschaftskritik:Malen nach Zahlen

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Marco Maurer: Du bleibst was du bist. Warum bei uns immer noch die soziale Herkunft entscheidet. Verlag Droemer/Knaur, 2015. 384 Seiten, 18 Euro. (Foto: verlag)

Deutschland sei eine Klassengesellschaft, konstatiert Marco Maurer. Das müsse nicht sein: Andere Länder machen es vor.

Von Laura Hertreiter

Marco Maurers Darstellung muss man auch aushalten können. So etwa wenn er sich seitenlang in Klischees verheddert, um sie dann in einem Nebensatz zu entwirren. Klischees wie das vom bei McDonald's abhängenden Arbeiterkind, während der Akademikerjunge glücklich im Wald spielt. Oder wenn er seinen Helden beschreibt, nämlich sich selbst: den Aufsteiger, der es als Kind eines Kaminkehrers und einer Friseurin an "die wohl beste Journalistenschule des Landes" und von dort aus ins Bildungsbürgertum geschafft hat, in große Medienhäuser, wo er seine Chefs "unverblümt" auf Verbesserungspotenzial hinweist.

Trotzdem, vielleicht auch gerade deshalb, ist Marco Maurers "Du bleibst was du bist" eine lebhafte Analyse der Bildungsungerechtigkeit, die in Deutschland ein heimliches Klassensystem schafft. Sie beginnt mit dem Tag, an dem der Autor drei Zahlen in der Zeitung liest: Von 100 Akademikerkindern beginnen 77 ein Hochschulstudium, in Nicht-Akademiker-Haushalten tun das nur 23 Kinder (wie eine Studie des Deutschen Studentenwerks zeigt). In den drei Zahlen erkennt Maurer an diesem Tag "meine Biografie in zwei Zeilen gepresst".

Als Arbeiterkind aus Bayerisch-Schwaben hatte er erst Molkereifachmann gelernt, ehe er auf dem zweiten Bildungsweg studierte. Als er liest, wie unwahrscheinlich solche Karrieren sind, begibt er sich auf eine Reise durch ein Land, in dem, so sein Fazit, Arbeiterkinder systematisch vom Aufstieg ferngehalten werden.

Die Schuld daran gibt er vor allem dem deutschen Bildungssystem, das Kinder in der vierten Klasse unterschiedlichen Schultypen zuordnet. Es katapultiert Kinder aus sozial bessergestellten Familien regelrecht an Gymnasien. Kinder mit Eltern ohne Studienabschluss bekommen dafür deutlich seltener eine Empfehlung. Auch Maurers Grundschullehrer sagte zur Mutter: "Die Realschule ist nichts für ihn." Als sie nach einem Aufnahmetest fragte, antwortete er: "Das hat doch keinen Wert bei ihm." Zack, ein Elfjähriger steht vor einer Schranke. So werden Laufbahnen versperrt.

Für sein Buch hat Marco Maurer Studien gewälzt und Leute getroffen, die es dennoch geschafft haben. Vom slowakischen Einwandererkind und heutigen Arzt Jacek Cerny bis zu Bahn-Chef Rüdiger Grube. Arbeiterkinder, die zu Akademikererwachsenen wurden, denen ihre Herkunft dennoch anklebt wie alter Kaugummi am Schuh. In Finnland besuchte er ein Schulsystem, das völlig anders funktioniert, und schildert, warum es ein gerechteres sei.

Zum Beispiel werden in Finnland Freundschaften nicht von Schularten diktiert. Maurer hingegen ist überzeugt, er könne keine Party mit den alten Arbeiter- und den neuen Akademiker-Freunden veranstalten. So zeichnet er auf jeder Seite aus den drei Zahlen in der Zeitung ein detailreiches Bild und illustriert damit die große Ungerechtigkeit. Manchmal tut er das in sehr grellen Farben, etwa wenn er vom "Ziegelklopfer Ali" als Prototyp eines Arbeiters schreibt. Aber Missstände erfordern manchmal eben auch Signalfarben.

© SZ vom 05.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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