Arbeitskampf-Experte Dribbusch:"Bei uns wird selten gestreikt"

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Arbeitskampf-Experte Dr. Heiner Dribbusch von der Hans-Böckler-Stiftung. (Foto: Hans-Böckler-Stiftung)

Streik bei der Bahn, geschlossene Türen an der Kita: Experte Dribbusch erklärt, wie sich Arbeitskämpfe in Deutschland verändert haben - und warum er für Gewerkschaften wie die GDL keine Zukunft sieht.

Von Florian Gontek

Heiner Dribbusch ist Streikexperte am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung des DGB und leitet dort das Referat für Tarif- und Gewerkschaftspolitik.

SZ.de: Bahn, Kitas, Lufthansa, Deutsche Post: Man hat den Eindruck, Deutschland ist zu einer Streikrepublik geworden.

Heiner Dribbusch: Nein, Deutschland ist definitiv keine Streikrepublik. Im internationalen Vergleich wird bei uns relativ selten gestreikt. Der Eindruck ergibt sich vielmehr aus einer Häufung an Streiks, die Bereiche der breiten Öffentlichkeit berühren. Allerdings hat die Anzahl der Tarifkonflikte, in denen es in irgendeiner Form zu einer Arbeitsniederlegung kommt, in den letzten zehn bis zwölf Jahren tatsächlich zugenommen. Das hängt wesentlich mit der fragmentierten Tariflandschaft zusammen, aber auch mit der sinkenden Bereitschaft von Unternehmen, Tarifverträge abzuschließen.

Streiktage im europäischen Vergleich 2005 - 2013 In anderen Ländern wird deutlich mehr als in Deutschland gestreikt: Arbeitskampfbedingte Ausfalltage pro 1000 Beschäftigte im Jahresdurchschnitt von 2005 bis 2013. (Foto: SZ)

Wurde in den 70er- und 80er-Jahren nicht deutlich weniger gestreikt?

Ältere Menschen haben häufig genau den entgegengesetzten Eindruck. Einen sechswöchigen Ausstand in der Metall- und Elektroindustrie mit einer Aussperrung von mehr 100 000 Beschäftigten wie 1984 beim Kampf um die 35-Stunden-Woche, so etwas hat es schon lange nicht mehr gegeben. Die Arbeitskämpfe haben sich in den Dienstleistungsbereich verlagert.

Hat sich die deutsche Streikkultur in den letzten Jahren verändert?

Streikformen und Taktiken haben sich verändert, ja. Große Flächenstreiks kommen heute kaum noch vor. Der letzte wirklich große Flächenstreik fand 1992 im Öffentlichen Dienst statt. Der letztlich ohne Ergebnis beendete Streik um die 35-Stunden-Woche 2003 in der ostdeutschen Metallindustrie war von der Zahl der Beteiligten schon deutlich kleiner. Große Branchen-Konflikte - beispielsweise im Einzelhandel - bestehen oft aus vielen kleinen, oft zeitlich begrenzten Streiks. Heute gibt es häufiger Auseinandersetzungen um Haus- und Firmentarife wie aktuell bei Amazon, wo das Unternehmen sich weigert, einen Tarifvertrag für seine Mitarbeiter abzuschließen. Urabstimmungen zeigen regelmäßig, dass im Konfliktfall die Streikbereitschaft der Gewerkschaftsmitglieder ausgesprochen hoch ist.

Welche Bedeutung haben die Gewerkschaften - etwa die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) - in Ihren Augen heute noch?

"Die Gewerkschaften" gibt es nicht. Die GDL, eine der ältesten Gewerkschaften Deutschlands, etwa ist eine Berufs- oder Spartengewerkschaft. Die Diskussion - auch vor dem Hintergrund des Tarifeinheitsgesetztes -, dass deren Zahl stetig zunehme, ist empirisch nicht belegt. In den vergangenen Jahren ist keine Spartengewerkschaft hinzugekommen, die ernsthaft in der Lage wäre, einen Tarifvertrag durchzusetzen. Die Berufs- und Spartengewerkschaften sind ein fester, aber doch recht kleiner Teil der Gewerkschaftsbewegung. Sie sind in meinen Augen aber kein Zukunftsmodell. Die großen Themen wie Lohnfortzahlung oder aktuell der Mindestlohn werden von den Industriegewerkschaften durchgesetzt.

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Die große Koalition hat für den Sommer ein Tarifeinheitsgesetz angekündigt. Demnach würde nur noch der Tarifvertrag der Gewerkschaft gelten, die im Betrieb die meisten Mitglieder hat. Wie wird sich dadurch die Rolle kleinerer Gewerkschaften, etwa der GDL, verändern?

Zunächst muss man feststellen, dass das Tarifeinheitsgesetz den momentanen Konflikt bei der Bahn deutlich zugespitzt hat. Die GDL muss in diesem geplanten Gesetz eine Existenzbedrohung sehen. Letztlich kommt es am Ende auf das Kleingedruckte an. Im Fall der Deutschen Bahn stellt sich die Frage: Was ist überhaupt der Betrieb? Das Unternehmen ist in 300 einzelne Betriebe unterteilt und hat eine extrem fragmentierte Struktur. Tarifverträge werden bei der Deutschen Bahn daher mit einem eigens gegründeten Arbeitgeberverband geschlossen. Es kommt als darauf an, welche Möglichkeiten das Gesetz der Bahn eröffnet.

Das müssen Sie näher erläutern.

Wird in jedem der 300 Betriebe ausgezählt, wird in den meisten die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) die Mehrheit haben, in einigen aber auch die GDL. Es würde dann Betriebe geben, in denen der EVG-Tarifvertrag gelten würde und in anderen der der GDL. Könnte die Deutsche Bahn hingegen den Gesamtkonzern als den Betrieb definieren, in dem die Mehrheitsverhältnisse festgestellt werden, hätte ganz klar die EVG die Mehrheit. Dann fänden die Tarifverträge der GDL dort keine Anwendung mehr. Die kleinere Gewerkschaft wäre möglicherweise dauerhaft ausgebremst. Ob dies noch mit dem Grundgesetz vereinbar ist, wird das Bundesverfassungsgericht klären müssen.

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Würde die Einführung eines Tarifeinheitsgesetzes die Streikkultur in Deutschland nachhaltig verändern?

Nein, nicht grundsätzlich. In den allermeisten Betrieben gibt es diese Form der Gewerkschaftskonkurrenz nicht, da es entweder nur eine Gewerkschaft gibt, oder die Gewerkschaften miteinander kooperieren - wie etwa bei den Journalisten oder im Öffentlichen Dienst. Von den 214 im vergangenen Jahr ausgetragenen Tarifkonflikten gibt es genau einen, wo das Gesetz gegriffen hätte - dem der Deutschen Bahn mit EVG und GDL. Das Klima zwischen beiden Gewerkschaften wird durch das Gesetzesvorhaben sicher nicht verbessert. Dabei wäre eine gleichberechtigte Kooperation von EVG und GDL sicherlich der effektivste Weg, den Tarifkonflikt erfolgreich zu beenden.

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