Großformat:Bilder im Kopf, Bilder auf Papier

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Die Schriftstellerin Rachel Kushner zeigt die Bilder, die sie während ihrer Arbeit an ihrem großartigen Roman "Flammenwerfer" über ihrem Schreibtisch hängen hatte und erzählt, was sie bedeuten.

Von Rachel Kushner

Als die amerikanische Schriftstellerin Rachel Kushner noch als Kunstkritikerin arbeitete, waren Bilder ihr Gegenstand. Heute sind sie Ausgangspunkte und Katalysatoren für ihren Schreibprozess. Schon bei ihrem ersten Roman, "Telex from Cuba", war das so. Beim zweiten, dem "Die Flammenwerfer", der eben bei Rowohlt erschien, ist es nicht anders. Wovon der Roman handelt und welche Rolle die Bilder beim Schreiben spielten, erzählt sie in diesem Text. Dazu zeigt sie Fotos aus ihrer Sammlung und erklärt, was sie daran fesselte.

Das erste Bild, das ich zur Inspiration aufhängte, als ich an "Die Flammenwerfer" arbeitete, zeigt eine Frau mit Klebeband über dem Mund. Sie schwebte über meinem Tisch mit ernstem, fast mörderischen Blick. Auf den Wangen trug sie Kriegsbemalung, blonde Zöpfe rahmten ihr Gesicht - ein fröhlicher Kontrapunkt zu dessen Intensität. Das Bild wurde zum Cover des Buchs, dessen Erzählerin eine blonde junge Frau ist. Eine Schöpfung aus Sprache, zum Schweigen gebracht.

"Das ist Billy Al Bengston, Künstler und Motorradrennfahrer. Er verbindet für mich die Welt der Kunst und die der Hochgeschwindigkeitsrennen in Utah." (Foto: Billy Al Bengston)

Das zweite Bild zeigte Fabio Taglioni, Ingenieur bei Ducati, hinter einer 1971er 750 GT. Die Ducati ist orange-metallic. Taglioni trägt Brioni. Ich hatte kein Bild eines Mädchens auf einem Motorrad, obwohl das Buch mit einem beginnt, das auf dem Salzsee in Bonneville, Utah Rennen fährt.

Die Frau in Kriegsbemalung stammt aus dem Italien der Siebziger. Sie symbolisiert für mich das aufrührerische Brodeln, von dem das Land damals ergriffen wurde. "Autonomia" war der Begriff für diese Bewegung, eine Welle von Menschen, die sich in Illegalität und Spiel trafen, um neue Formen des Zusammenseins in einem Land zu schaffen, dessen Arbeiterklasse schwach war und dessen Unterschicht die Nase voll hatte von Arbeit. Sie war bereit aufzustehen, und tat das teils ausgelassen, teils voller Zorn. Zu dieser Bewegung gehörten verschiedene Gruppen. Die gewalttätigste, geheimste und - paradoxerweise - sichtbarste waren die Roten Brigaden.

Die Siebziger in Italien erschienen mir naheliegend als Thema für einen Roman. Alles begann, als ich eine geheimnisvolle, magnetische Italienerin traf. Als ich sie ganz naiv frage, was sie tue, wofür sie sich interessiere, starrte sie mich an und sagte: "niente". Nichts. Sie war die Freundin eines Terroristen der Roten Brigaden.

Ich traf sie in einem Haus am Comer See, das voll war mit faschistischen Reliquien der Mutter von irgendjemandem: Mussolini-Büsten, in Marmor gemeißelte Slogans von D'Annunzio. Was mich zu dem dritten Bild bringt: das von zwei Gentlemen in einem Gefährt aus dem Ersten Weltkrieg: einem Motorrad mit Beiwagen in der Form eines Geschosses. Obwohl der Mann im Beiwagen dem am Lenker ausgeliefert ist, wirkt er souveräner. Er sieht aus wie der Futurist Marinetti. Ich tat so, als sei er es.

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(Foto: Aldo Bonasia)

Dieses Bild ist von Aldo Bonasia, dessen Fotos der "Autonomisten" in Mailand ich beim Schreiben an den "Flammenwerfern" immer vor mir hatte. Es zeigt ein Gefängnisdach während eines Häftlingsaufstands. Die Person rechts in der schwarzen Unterhose ist sehr, ja, sagen wir, inspirierend. Nur so viel.

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(Foto: Rob Wilson)

Das bin ich mit meiner Freundin Zoe, 1980. Ich war elf. Eine Nachbarin hat uns geschminkt. Zoes Mutter Ellie Meyer und ihr Freund Rob Wilson, der das Bild gemacht hat, haben später für Donald Judd gearbeitet. Ich wohnte bei ihnen in einem winzigen Apartment in der Mulberry Street. Die Müllabfuhr streikte, daran erinnere ich mich, und vieles andere passierte in diesem Sommer, das meine Beziehung zu dem Soho dieser Ära prägte.

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(Foto: Cosmos Andrew Sarchiapone)

Das ist Richard Serra.

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(Foto: Evan Calder Williams)

"Mara" ist Mara Cagol, eine Anführerin der Roten Brigaden. "Le altre" sind die militanten Frauen im Italien der Siebziger, deren Leninismus und Bomben nur eine Facette der Welle feministischer Aktionen waren, die Italien damals veränderten. Für das Buch wurde ein Bild aus Jean-Luc Godards "La Chinoise" (1967) gewählt. Kein Bild einer Terroristin, von denen es viele gab, sondern ein Bild von einer Schauspielerin (Juliet Berto), die eine Terroristin spielt. Mara Cagol befreite ihren Mann, den Rote-Brigaden-Anführer Renato Curcio, 1975 aus dem Gefängnis. Im selben Jahr wurde sie von den Carabinieri erschossen. Der Gründer von Feltrinelli, dem Verlag, in dem das Buch erschien, starb 1972 bei einem Sabotageversuch auf Mailands Stromversorgung.

Das sind die zwei zentralen Stränge der "Flammenwerfer": Italien 1977 und New York zur selben Zeit, eine Periode, die mich seit Langem fasziniert: die Zeit, als sich die Stadt anfühlte wie Detroit. Das Geld war weg, die Industrie abgewandert, dafür war New York voller Müll. Teile von Downtown Manhattan wurden befreite Zonen, bevölkert von Künstlern und Kriminellen.

Ich wollte New York als Raum von Energien, Klängen, Empfindungen erschaffen. Nicht als Hintergrund, als Ort, der sich in Geschichte, Soziologie und Urbanismus auflösen würde, sondern als Gesamtheit, die sich so wenig reduzieren lässt wie eine Romanfigur. Ich sah mir viele Fotos aus dem Downtown der Siebziger an. Die Künstler trugen Revolver - William Burroughs, William Eggleston, Richard Serra. Das hatte ich nicht erwartet. Und die Frauen, sie waren nackt: Hannah Wilke, Francesca Woodman, Ana Mendieta, Marina Abramović. Letztere hatte einen Lauf an ihrer Schläfe - gehalten von einem Mann.

Was das bedeutet? Kunst, das waren jetzt Handlungen, die sich nicht verkaufen ließen. Es ging um Gesten und Körper. Man hatte jetzt die Freiheit zu schießen, mit dem Motorrad über einen Salzsee zu rasen oder Erde und Holz auf dem Boden zu verteilen. Aber was bedeutete es für den Roman? Ich hatte das Vergnügen und das Problem, die Pistolen und die nackten Frauen als charakteristische Züge eines fiktionalen Raums zusammennähen zu müssen. Eines Raums, in dem die Erzählerin, die das letzte Wort hat - alle Wörter -, dennoch ständig überrollt und zum Schweigen gebracht wird von der sehr maskulinen Welt des Romans, die sie bewohnt. Ich begann "Die Flammenwerfer" mit Bildern. Als ich fertig war, hatte ich einen dicken Stapel.

Übersetzung Jörg Häntzschel

© SZ vom 09.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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