Kinderbetreuung:Vom sozialistischen Makel zum Fördermodell

Die Erzieherinnen streiken, Eltern im ganzen Land sind betroffen. So logisch dieser Zusammenhang heute ist, so umstritten war die Kinderbetreuung noch vor wenigen Jahren. Die Zeitenwende in der deutschen Familienpolitik in Zitaten.

Von Dorothea Grass

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Streiks in Kindergärten

Quelle: dpa

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Während in der DDR Frauen in Vollzeit ihr eigenes Geld als Traktoristin, Maschinenbauerin oder Hygieneinspektorin verdienten, ihre Männer das Gleiche - für zugegebenermaßen etwa 20 bis 30 Prozent mehr Lohn - taten und beider Kinder in den staatlichen Kindertagesstätten und Horteinrichtungen betreut wurden, sah es lange Jahre im Westen Deutschlands ganz anders aus. Dort verdiente der Mann den Familienunterhalt, während die Frau zu Hause die (meist noch kleinen) Kinder betreute, um später eventuell wieder in Teilzeit in den Beruf zurückzukehren.

Die großen politischen Debatten im Westdeutschland der Nachkriegszeit - sie gingen um Atompolitik, Aufarbeitung der Nazi-Zeit und die Ostverträge. Das Thema Familie, Frau und Beruf taugte wenig zur politischen Profilierung. Das hat sich mit der Wiedervereinigung gründlich geändert. Doch bis im Bundestag leidenschaftlich über die richtige Kinderbetreuung diskutiert wurde, brauchte es seine Zeit.

Der Wandel in Politiker-Zitaten.

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Quelle: TOL

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Die CDU-Politikerin und Gerontologin Ursula Lehr war von 1988 bis 1991 als Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit im Amt. Um angesichts der steigenden Zahlen von Einzelkindern deren soziale Kompetenzen zu fördern, forderte sie im Jahr der Wende Betreuungseinrichtungen für Kinder ab zwei Jahren.

Lehr relativierte ihre Aussage kurz darauf: "Es war nie die Rede davon, Windelkinder in einen Zehnstundentag zu pferchen. Das ist auch ganz bestimmt nicht zu verantworten." Doch es half nur wenig: Ein Sturm der Entrüstung ging auf sie nieder.

Max Streibl

Quelle: picture-alliance / dpa

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Der bayerische Ministerpräsident Max Streibl von der CSU (Bild) wetterte im Februar 1989, Lehrs Vorschläge erinnerten ihn an die Verhältnisse in der DDR.

Alois Glück, CSU-Fraktionschef im Bayerischen Landtag, sprach von einem "sozialistischen Irrweg". Das Parteiblatt Bayernkurier warnte vor einer "Frühablieferung von Zweijährigen". Und CDU-Mann Jürgen Todenhöfer warf Lehr vor, dem Ansehen der Mütter zu schaden.

Grüne Fischer Regierung

Quelle: A3215 Michael Jung/dpa

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Bundeskanzler Gerhard Schröder bezeichnete das Familien-Ressort als "Familie und Gedöns". Später tat ihm das leid. 2013 erzählte er in einem Interview mit der Zeitung Welt, er habe sich anlässlich der Vereidigung des Bundeskabinetts im Oktober 1998 schlichtweg nicht an den langen Namen des Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erinnern können: "Das fiel mir einfach nicht ein, und dann ... Na, Sie wissen schon."

JUGEND- UND KINDERTHEATERPREIS VERGEBEN

Quelle: DPA/DPAWEB

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"Deutschland braucht mehr Kinder", konstatierte die SPD-Politikerin Renate Schmidt während ihrer Amtszeit als Bundesfamilienministerin von 2002 bis 2005 und forderte eine nachhaltige Familienpolitik. Auf ihre Initiative geht das 2005 in Kraft getretene "Tagesbetreuungsausbaugesetz" zurück, mit dem sie das Ziel setzte, 230 000 Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren bis ins Jahr 2010 zu schaffen.

In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom Februar 2005 sagte sie: "Wir brauchen differenzierte Angebote, zum Beispiel mehr Tagesmütter und Einrichtungen mit flexiblen Öffnungszeiten. Klar ist: Keine Eltern dieser Welt wollen ihre Kinder nach der Geburt in der Krippe abgeben und im Alter von 18 mit vereinbarten Qualitätsmerkmalen an der Ganztagesschule abholen."

Auch 2012 hielt sie an der Wichtigkeit des Themas fest. In einem Interview mit der B.Z. sagte sie: "Familienpolitik ist Bildungspolitik, ist Wirtschaftspolitik."

Bundestag

Quelle: dpa

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Unter Ursula von der Leyen (CDU) als Bundesfamilienmnisterin (2005-2009) wurde in Deutschland das Elterngeld eingeführt. Das dafür grundlegende Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz löste die bisherige Erziehungsgeld-Reglung ab. Im Februar 2007 forderte sie eine Verdreifachung der Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren bis zum Jahr 2013.

Es dürfe nicht sein, "dass wir in Westdeutschland nur für acht Prozent der Kleinkinder Betreuungsangebote haben, obwohl die Nachfrage deutlich höher ist", so von der Leyen im Mai 2007 in der FAZ. Ihre Parteikollegen stellt sie damit vor ein Dilemma: Wie passt ihre Forderung nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zum konservativen Familienbild der Union? Der damalige Ministerpräsident von Hessen, Roland Koch stärkt von der Leyen den Rücken, gibt aber auch zu, dass ihre Vorschläge eine "tektonische Verschiebung" in der Familienpolitik der CDU bedeuten.

Kritik in der Betreuungsfrage kommt aus Bayern, CSU-Landesgruppenchef Peter Ramsauer sieht gar die Gefahr einer "Sozialdemokratisierung" seiner Partei.

Ursula von der Leyen winkt ab. "Wenn es etwas gibt, woran die deutsche Familienpolitik der letzten 30 Jahre gekrankt hat, dann ist es diese polarisierende Entweder-oder-Haltung. Dadurch konnte nie ein Konsens erreicht werden, wie wir Familien die Wahlfreiheit schaffen, Kindererziehung und Berufswünsche zu leben." (Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 2007)

Jahresrückblick 2010 - Bischof Mixa tritt zurück

Quelle: dpa

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Der Augsburger Bischof Walter Mixa kritisierte von der Leyens Pläne zum Ausbau der Kleinkindbetreuung aufs Schärfste. Sie seien "schädlich für Kinder und Familien und einseitig auf eine aktive Förderung der Erwerbstätigkeit von Müttern mit Kleinkindern fixiert", sagte Mixa. Der Ministerin gehe es nicht um das Kindeswohl, sondern darum, "junge Frauen als Arbeitskräfte-Reserve für die Industrie zu rekrutieren". Eine staatliche Förderung der Kinderbetreuung degradiere Frauen zu "Gebärmaschinen", so der aufgebrachte Bischof.

CSU-Krisenrunde - Herrmann

Quelle: dpa

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Joachim Herrmann, damals CSU-Fraktionsvorsitzender im bayerischen Landtag, gab sich 2007 dagegen bewusst modern: "Kinderkrippen und Horte stehen nicht im Widerspruch zu unserem christlichen Familienbild", erklärt er. "Unser Maßstab muss einzig und allein sein, was jungen Menschen hilft, sich für ein Kind zu entscheiden und was den Kindern gut tut", setzte Herrmann fort. Darüber hinaus müsse die Politik die Realität im heutigen Erziehungsalltag zur Kenntnis nehmen. Auch die berufstätige Mutter entspreche dem christlichen Familienbild der CSU.

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Quelle: AFP

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Ursula von der Leyen und ihre Nachfolgerin Kristina Schröder (links im Bild) anavcieren über das Thema Kinderbetreuung hinaus zu Lieblingsfeindinnen im Kabinett. Schröder, die von 2009 bis 2013 als Bundesfamilienministerin im Amt ist und als erste währenddessen Mutter wird, greift einen Begriff ihrer Vorgängerin auf. Er lautet "Wahlfreiheit" und soll das als "Herdprämie" geschmähte Betreuungsgeld rechtfertigen.

In einem Interview mit dem Handelsblatt vom Mai 2013 sagt sie: "Der Ausbau der Kinderbetreuung ist der entscheidene Punkt für die Bundesregierung, um den beruflichen Wiedereinstieg von Eltern zu erleichtern." Darüber hinaus ist ihr aber ein Zweites genau so wichtig: "Ich halte aber eine Politik für falsch, die versucht, Männer und Frauen, Väter und Mütter dahin zu treiben, spätestens ein Jahr nach der Geburt beruflich konstant Vollgas geben zu müssen, und eine durchgehende Vollzeiterwerstätigkeit als Norm vorgibt." (Spiegel, Oktober 2013)

Parteikollegin Ursula von der Leyen kontert: "Wahlfreiheit ist nur echte Wahlfreiheit, wenn Eltern auch verschiedene Angebote haben."

Bundestag

Quelle: Soeren Stache/dpa

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Das Betreuungsgeld kommt trotzdem - genauso wie der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für unter Dreijährige. Es wird im November 2012 im Parlament beschlossen. Eine der größten Gegnerinnen der Familienleistung muss nun hauptberuflich damit klarkommen: Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD), seit Dezember 2013 im Amt.

Bereits vor ihrer Vereidigung als Ministerin vertritt sie die Auffassung: "Die allermeisten Bürger fragen nach passgenauer Kinderbetreuung durch Kita-Plätze, nicht nach den 100 Euro Betreuungsgeld." Dem Vorwurf aus den Reihen der Union, Kinderbetreuungsplätze seien in Wahrheit nur dazu da, damit die Wirtschaft genügend Frauen als Arbeitskräfte gewinnen kann (Norbert Blüm) entgegnet sie: "Der Vorwurf, dass Kinderbetreuung der Ökonomisierung des Lebens diene, ist falsch. Kinderbetreuung soll die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen. Sie soll aber nicht die Familie ersetzen." (Passauer Neue Presse, Juli 2013)

Dazu, dass Menschen in sozialen Berufen zu wenig verdienen, hat Schwesig eine klare Haltung: "Wer in einem Pflege-Job Menschen hebt, wird schlechter bezahlt als jemand, der Steine hebt. Das ist ein Ansatzpunkt." (Bild-Zeitung, März 2015)

© SZ.de/gal/ghe/pamu
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