Ex-OB von Kassel:Vom Nazi zum Sozi

  • Eine Gutachten von Historikern hat die NS-Vergangenheit von Karl Branner, Ex-OB von Kassel, geklärt.
  • Demnach war Branner ein typischer opportunistischer Deutscher jener Zeit. Zwar war er kein Kriegsverbrecher und bereicherte sich nicht an jüdischem Eigentum. Aber er trat schon am 1. Mai 1933 in die NSDAP ein, später in andere NS-Organisationen.
  • Karl Branner, Oberbürgermeister von 1963 bis 1975, ist Ehrenbürger der Stadt, nach ihm sind eine Brücke und ein Flügel des Rathauses benannt.
  • Auf der Grundlage des Gutachtens werden die Fraktionen im Rathaus nun beraten, ob Brücke und Flügel umbenannt werden müssen. Die Grünen und die FDP sind tendenziell für eine Umbenennung, das Interesse der SPD ist gering.

Von Susanne Höll, Kassel

Zum 100. Geburtstag von Karl Branner erinnerte die Kasseler SPD noch an die großen Verdienste ihres langjährigen Oberbürgermeisters. Er sei ein "Verfechter der Demokratie" gewesen. Das war im September 2010, Branner war damals drei Jahre tot. Nun müssen die nordhessischen Sozialdemokraten das Bild ihres Vorzeigemannes korrigieren, etwas jedenfalls.

Denn Branner hat sich, wie eine Historikerkommission herausfand, mit seiner NS-Vergangenheit nicht gebührend auseinandergesetzt. Nun steht der Stadt eine neue Diskussion bevor, wie mit dem Mann posthum umzugehen ist.

Branner, Oberbürgermeister von 1963 bis 1975, war Ehrenbürger der Stadt, nach ihm sind eine Brücke und ein Flügel des Rathauses benannt. Vor gut eineinhalb Jahren machte der Kasseler Erziehungswissenschaftler und Zeithistoriker Dietfrid Krause-Vilmar publik, dass es braune Flecken in Branners Vita geben könnte.

Es wird gefordert, die "Karl-Branner-Brücke" umzubenennen

Prompt brach ein Streit über die Frage aus, ob die Ehrungen rückgängig gemacht und die Brücke umbenannt werden müssten. Oberbürgermeister Bertram Hilgen (SPD) beauftragte Geschichtswissenschaftler, das Leben und Wirken Branners in und nach der NS-Zeit zu überprüfen. Unter den Historikern war auch Eckart Conze, Professor für Neuere Geschichte in Marburg, der schon die Nazi-Vergangenheit des Auswärtigen Amtes untersucht hatte.

Kassel ist, wenn man so will, überall. In etlichen deutschen Städten werden 70 Jahre nach Kriegsende Ehrenlisten und Stadtpläne durchforstet nach nationalsozialistischen Propagandisten und Helfershelfern, von denen sehr viele später überzeugte Demokraten wurden. Mancherorts findet man heraus, dass verdiente Kommunalpolitiker Blut an den Händen hatten.

Judenfeindliche Passagen in der Dissertation

Das Ergebnis der Branner-Expertise, die am Montag vorgestellt werden soll, ist zwiespältig. Zwar war der Ex-OB kein Kriegsverbrecher und hat sich auch nicht an jüdischem Eigentum bereichert. Aber er trat schon am 1. Mai 1933 in die NSDAP ein, später in andere NS-Organisationen. Seine Dissertation im Fach Wirtschaftswissenschaften enthält judenfeindliche Passagen.

Andererseits wurde er als Soldat wegen Ungehorsam und Wehrkraftzersetzung zu einigen Monaten Haft verurteilt, in der Kriegsgefangenschaft in Jugoslawien engagierte er sich in antifaschistischen Arbeitsgruppen und trat der SPD bei.

Branner, so das Urteil der Historiker, war ein ziemlich typischer opportunistischer Deutscher jener Zeit. 1933 habe er sich aus Eigennutz dem NS-System zugewandt, nach dem Krieg "sein Heil im Sozialismus erkannt", heißt es in der Schrift mit dem Titel "Vergangenheiten".

Politiker reden nicht gern über die eigene Geschichte

Es ist das Verdienst der Historiker um Conze und Krause-Vilmar, dass sie auch den Stadtgesellschaften Verantwortung für mangelhafte Vergangenheitsbewältigung zuschreiben. Die Politiker redeten nicht gern über ihre eigene Geschichte, die Bürger fragten nicht näher nach. Alle blickten lieber nach vorn statt zurück in die düstere Historie.

Wie geht es weiter in Kassel? Am 18. Mai wird die Expertise im Rathaus präsentiert. Dann sollen die Fraktionen beraten, ob Brücke und Flügel umbenannt werden müssen oder das nach dem ersten Kasseler Nachkriegs-Oberbürgermeister Willi Seidel (SPD) benannte Jugendzentrum umbenannt werden müssen. Auch Seidel hat dunkle Flecken im Werdegang.

Aus den Reihen der Grünen, die mit der SPD regieren, wurde der Ruf nach Namenskorrektur laut; ebenso aus der FDP. Das Interesse der SPD an einer Umbenennung ist indes gering. OB Hilgen hat sich noch nicht festgelegt. Aber in einer ersten Reaktion auf die Historiker-Recherche ließ er mitteilen, sie bringe "keine wesentlichen neuen Erkenntnisse".

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: