Ering:Idyll im geschundenen Fluss

Das Europareservat Unterer Inn zwischen Mühldorf und Passau ist eines der größten und bedeutendsten Vogelschutzgebiete Bayerns. Der Mensch griff dort auf brachiale Weise in die Natur ein - und schuf ausgerechnet durch seine Gewalt neuen Lebensraum

Von Heiner Effern, Ering

Wenn der Seeadler sich nicht blicken lässt, dann geht es richtig friedlich zu auf dem Stausee. Enten und Gänse schwimmen in den Ausschnitt des Fernglases und verlassen ihn wieder, hohe Gräser wiegen sich auf kleinen Inseln in der Frühlingssonne. Ein paar Schwäne zuckeln herum, denen der Laie nicht ansieht, dass sie zur Gattung der Verzweifelten oder Verstoßenen gehören. "Das sind diejenigen, die keine abbekommen haben und deshalb in der Brutzeit nicht wissen, was sie mit sich anfangen sollen", sagt Andrea Bruckmeier, eine gelernte Försterin, die das Schutzgebiet betreut. Am Ufer weist sie auf die ersten Orchideen hin, die in geschützter Lage zu sprießen beginnen, dann breitet sie die Arme aus. "Das hier ist das Herzstück", sagt sie, und deutet auf die weiten Flächen des Inns, die sich vor dem Kraftwerk bei Ering wie ein See stauen, und auf die Auen, die hinter dem Uferdamm liegen.

Andrea Bruckmeier meint damit das Herzstück des Europareservats Unterer Inn, eines der größten und bedeutendsten Vogelschutzgebiete Bayerns, das aber fast niemand kennt. Denn der Inn zwischen Mühldorf und Passau ist wenig spektakulär und zieht nur wenige Touristen an. Seine Wucht als Gebirgsfluss hat er längst verloren, die Landschaft rundum ist hügelig und von Landwirtschaft geprägt. Der Mensch hat sein Übriges getan, um ihn zu demütigen, er hat ihn mit Gewalt in ein künstliches Bett gezwängt und immer wieder brachial ein Kraftwerk hineingesetzt, um ihn als Stromlieferanten zu nutzen.

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Doch aufbauend auf dieser Misshandlung hat der Inn hier einen neuen Lebensraum geschaffen, der seinesgleichen sucht. Im ruhigen Wasser vor den röhrenden Turbinen, die offenbar den Menschen mehr stören als die Tiere, verliert der Fluss alle Energie. Unendlich viele kleine Schwemmteilchen, die er aus den Bergen mitbringt, lagern sich ab. Neue Inseln entstehen, zuerst sind es Sandbänke, dann dünn bewachsene Grünstreifen, später werden daraus bewaldete Flecken. Insbesondere im Frühjahr und im Herbst landen hier Tausende Zugvögel, bevor sie ins Winterquartier fliegen oder daher zurückkehren. Alles, was sie benötigen, ist in kurzer Flugdistanz zu den Alpen da, eine ruhige Wasserfläche, kaum Feinde und genügend Nahrung. "Hier können sie sich ausruhen und sattfressen", sagt Andrea Bruckmeier.

Das 55 Kilometer lange Europareservat liegt zwischen der Salzachmündung und Schärding. Der Inn mit seinen Nebenarmen ist hier bis zu einen Kilometer breit. Etwa 300 Vogelarten wurden gezählt, viel mehr europäische Arten gibt es nicht. In der Brutzeit sind der Pirol, der Sumpfrohrsänger oder der Schlagwirl zu hören. Auf der Durchreise sind auch Gäste aus dem Watt, die auf den Sandbänken ein letztes Mal Heimatgefühle verspüren. Die Könige des Gebietes sind aber die beiden Seeadler, die seit 2008 am Unteren Inn brüten. Bis zu 2,5 Meter Spannweite erreichen sie mit ihren Flügeln, wenn sie Fische und andere Vögel jagen. Das Pärchen ließ sich viele Jahre durchs Fernrohr beobachten, wenn es auf seinem Lieblingsbaum saß. Doch seit ein Sturm diesen wegriss, machen sie sich rar. "Wir wissen bis heute nicht, wo sie sich aufhalten", sagt Gebietsbetreuerin Bruckmeier. Dafür kennt sie den Rest ihrer Fauna und Flora so genau, dass sie Anekdoten über die schwindende Lachmöwenkolonie ebenso erzählen kann wie über Besucher im Schutzgebiet, die insbesondere die Bauern ungerne sehen: Marodierende Wildschweine nutzen nämlich die verwilderten Inseln im Inn als Rückzugsort von ihren Streifzügen. Dazu schwimmen sie zum Ärger der Jäger ein ganzes Stück den Fluss hinaus und verschwinden im Dickicht.

Im Herzstück des Reservats, fünf Minuten vom Besucherzentrum (www.europareservat.de) entfernt, mehren sich in der wärmenden Sonne die Besucher. Radfahrer machen Pause, Spaziergänger flanieren am Inndamm entlang und auch die Profis sind unterwegs. Am Parkplatz fährt ein Mann die Teleskopstangen seines Stativs aus. Vorne dran schraubt er eine Kamera mit einem Objektiv, mit dem man eine Wildsau erschlagen könnte. Er schultert das Gestänge und marschiert los. Nach einer halben Stunde kehrt er zurück, auf Nachfragen reagiert er so kurz, als ob er einen brütenden Pirol aufscheuchen würde. Sehr ruhig heute, sagt er, nix los auf dem Wasser. Nur die einsamen Schwäne ziehen ihre Kreise.

Für den Tipp bedanken wir uns bei Sylvia Dorn-Schmid aus  München.

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