Ein Leben als Wissenschaftlerin:Späte Würde

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Ein deutsches Leben: Ingeborg Rapoport floh vor den Nazis nach Amerika. Aber auch dort konnte die überzeugte Kommunistin nicht bleiben. In der DDR machte sie als Ärztin Karriere.

(Foto: Thomas Peter/Reuters)

Ingeborg Rapoport hat mit 102 Jahren den Doktortitel erworben, der ihr 1938 als Jüdin verweigert wurde. Über eine alte Dame und ihren Uni-Abschluss, der auch ein kleines Stück Wiedergutmachung ist.

Von Verena Mayer

Ingeborg Rapoport ist 102 Jahre alt und hat soeben ihren Universitätsabschluss gemacht, einen Doktor in Medizin. 45 Minuten lang wurde sie dafür von drei Prüfern befragt, Diphtherie war ihr Thema. Das allein wäre schon ungewöhnlich genug: Da ist eine Frau, die älter ist als die meisten Menschen auf der Welt, und dann promoviert sie auch noch. Doch Ingeborg Rapoports späte Doktorwürde ist mehr als eine Geschichte von Leuten, die es im hohen Alter allen beweisen, so wie in dem Bestseller "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand". Es geht um Schuld. Und darum, ob man sie wiedergutmachen kann.

Aber erst einmal bittet Ingeborg Rapoport in ihr Haus in Berlin-Pankow. Sie lebt allein hier, seit ihr Mann vor zehn Jahren starb. Ein Wohnzimmer mit einem Flügel, viele Bücherschränke, eine Vase mit rosa Pfingstrosen. Bevor sie an einem kleinen Tisch Platz nimmt, stellt sie das Telefon aus. Es klingelt ständig dieser Tage, die Nachricht von ihrer Promotion ging um die Welt, "es ist wie ein Gewitter, Blitz um Blitz", sagt sie. Aus den USA, Kanada oder Japan rufen sie an, später kommt noch ein Journalist aus Spanien vorbei. Die meisten, sagt Ingeborg Rapoport, würden fragen, wie man so alt werde. Und? "Indem man nicht ständig darüber nachdenkt."

Aus jedem Satz hört man die Wissenschaftlerin heraus, die sie ein Berufsleben lang war

Sie sitzt aufrecht in ihrem Sessel, weißes Haar umrahmt das zarte Gesicht. Rapoport ist aufmerksam und zugewandt, immer wieder macht sie trockene Bemerkungen, sagt etwa, ihre Tochter würde sie rügen "wegen der großen Worte, die ich schon wieder mache". Sie strahlt die kluge Selbstsicherheit von Menschen aus, die es gewohnt sind, sich mit geistigen Dingen zu beschäftigen. Nur an den hellen Augen merkt man, dass Ingeborg Rapoport sehr alt ist. Sie ist fast blind, sieht nur mehr Schatten. Die Romane von Maupassant, die sie liebt, muss sie als Hörbücher hören.

Rapoport erzählt gleich von ihrer Prüfung. Spricht über die "schwierige Forschungssituation" und "den Stand der Wissenschaft". Aus jedem Satz hört man die Ärztin und Wissenschaftlerin heraus, die sie ein Berufsleben lang war, zuletzt hatte sie an der Berliner Charité einen Lehrstuhl für Neugeborenenmedizin inne. Das Lernen sei "etwas knifflig" gewesen, sagt sie, wegen der Augen. Die Schwiegertochter hat für sie Sachen im Internet recherchiert und ihr am Telefon vorgelesen. Das hat sie gelernt oder der Schwiegertochter neue Fragen mitgegeben, so ging das viele Wochen lang hin und her.

Rapoport sagt das alles ganz ruhig, die Hände im Schoß gefaltet. Als sei es das Alltäglichste, mit 102 dermaßen im Leben zu stehen. Sie weiß, was auf der Welt vorgeht, spricht über amerikanische Politik, die Flüchtlinge im Mittelmeer. Und sie weiß, dass in Lüneburg gerade einem 96-Jährigen der Prozess gemacht wird, weil er SS-Mann in Auschwitz war. "Einmal muss er vor Gericht, das ist man den Opfern schuldig", sagt Rapoport. Dann wird sie ernst und still. In gewisser Weise sind der Prozess und ihre Promotion zwei Seiten derselben Medaille. Beispiele dafür, wieviel Unrecht es in Deutschland 70 Jahre nach Kriegsende noch aufzuarbeiten gibt.

Denn der Grund, warum Ingeborg Rapoport erst mit 102 Jahren Doktor wurde, ist, dass ihr der Titel 1938 verweigert wurde. Da hatte sie, die als Tochter eines Kaufmanns und einer Pianistin aufwuchs, an der Universität Hamburg ihre Doktorarbeit fertig. Es ging um die Lähmungen, die von der Diphtherie kommen, sie stand im Labor und machte Versuchsreihen an Meerschweinchen. Doch weil ihre Mutter Jüdin war, wurde sie nicht zur Prüfung zugelassen, und ihre akademische Laufbahn war zu Ende. Kurz darauf musste sie aus Deutschland fliehen und ganz allein nach Amerika auswandern, wo sie einen neuen Abschluss machte und Kinderärztin in Cincinnati wurde. Sie heiratete, bekam vier Kinder, die ebenfalls in der Wissenschaft oder Medizin gelandet sind.

Rapoports Fall dürfte einer von vielen an deutschen Universitäten sein. Sie selbst will ihn nicht so hoch hängen. "Andere sind ermordet worden. Ich hingegen hatte ein schönes und befriedigendes Leben, vielleicht erfüllter, als es sonst gewesen wäre." Aber eine Frage stellt sich doch: Warum erst jetzt? Anruf bei Uwe Koch-Gromus. Er ist Dekan am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, vergangene Woche saß er als Prüfer in Ingeborg Rapoports Wohnzimmer. Als er vor acht Jahren seine Stelle antrat, habe er erst gedacht, alles sei aufgearbeitet, "da ist nichts mehr". Und dann gemerkt: "Die Vergangenheit holt einen immer irgendwann ein."

Auf Rapoports verweigerte Doktorwürde stieß er, als die Charité sie zu ihrem hundertsten Geburtstag ehrte. Er hat ihr dann einen Ehrendoktortitel vorgeschlagen, was sie jedoch ablehnte. Wenn Doktor werden, dann richtig. Die Arbeit selbst ist zwar verschollen, aber Koch-Gromus fand noch eine Bescheinigung ihres alten Doktorvaters, der sich trotz des Druck für die jüdische Studentin eingesetzt hatte. Koch-Gromus schwärmt von "der gestochenen Sprache", mit der Rapoport ihre Arbeit verteidigte. Es ist dieselbe wache Klarheit, wie sie die beiden jungen Filmemacherinnen festhielten, die Ingeborg Rapoport und ihren Mann Samuel Mitja im Jahr 2003 besuchten. In dem Film sieht man, wie ein Mann und eine Frau, beide über 90 Jahre alt, in ihrem Garten sitzen und ein Jahrhundert Revue passieren lassen. Ihre Flucht und das Fremdsein, das sie als das Schlimmste empfunden hätten. Und die Liebe, die sie zusammengehalten hat, "das Funkelnde daran", erzählt sie. "Ich habe noch immer das alte Entzücken, wenn ich ihn sehe."

Dass ihre alte Hochschule heute auf sie zuging, bedeutet ihr viel

"Die Rapoports - Unsere drei Leben" heißt der Film. Drei, weil Ingeborg Rapoport auch aus ihrem zweiten Leben vertrieben wurde, das sie sich als Kinderärztin in Amerika aufgebaut hatte. Sie und ihr Mann waren überzeugte Kommunisten, und das war Anfang der 50er-Jahre in den USA existenzbedrohend. Die Familie mussten einmal mehr auswandern. Sie gingen zurück nach Deutschland, ins heruntergebombte Ost-Berlin, wo Samuel Mitja der international bekannteste Biochemiker der DDR wurde.

Ingeborg Rapoport steht vorsichtig auf und geht hinaus in ihren Garten. Tastet sich zum Magnolienbaum, deutet auf einen Teich mit den Seerosen. Eine stille Gegend im Osten Berlins, mit hübschen Einfamilienhäusern und viel Grün, die Welt wirkt sehr weit weg hier. Kann es eigentlich Wiedergutmachung geben? "Ich sehe dieses Wort immer unter Anführungsstrichen", sagt sie und deutet auf eine Straße gegenüber. Eine überlebende Widerstandskämpferin habe dort gewohnt, und als sie alt und dement wurde, "kam das Quälende Nacht für Nacht in ihren Träumen wieder". Wie solle man so etwas wiedergutmachen? Aber dass die Universität auf sie zugegangen sei, bedeute ihr viel.

Wird sie ihren Doktortitel denn führen? Nein, sagt sie, das sei unwichtig. "Es hat nichts mit mir persönlich zu tun, mir war um die Sache zu tun." Aber ihre Note, die wollte sie schon wissen. Die 102 Jahre alte Ingeborg Rapoport schloss ihr Studium mit Magna cum Laude ab.

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