Darmstadt 98 vor Aufstieg:Fast zu märchenhaft, um wahr zu sein

Arminia Bielefeld - SV Darmstadt 98

So war es vor einem Jahr: Darmstädter Spieler feiern den Aufstieg in Liga zwei. Und nun?

(Foto: Friso Gentsch/dpa)

Insolvenzantrag 2008, Klassenerhalt am grünen Tisch 2012, Glücksrausch 2013 - und nun die Rückkehr in die Bundesliga? Die Geschichte von Darmstadt 98 ist tatsächlich ziemlich unglaublich.

Von Martin Schneider, Darmstadt/München

Manchmal hat schon ein einzelner Satz eine unglaubliche Wucht. Einer dieser Sätze an diesem Fußball-Wochenende ist: "Der SV Darmstadt 98 kann in die Bundesliga aufsteigen." Es ist eigentlich ein wahnwitziger Satz.

Die Geschichte dahinter ist tatsächlich ziemlich unglaublich, und sie beginnt nicht im vergangenen Jahr mit dem Tor in der 122. Minute der Relegation gegen Arminia Bielefeld. Sondern mit einem Brief des Finanzamtes zur Weihnachtszeit vor acht Jahren.

Die Steuerfahndung

Darmstadt spielte im Winter 2007 in der viertklassigen Oberliga Hessen. Ein neues Präsidium war im Amt und die sogenannten Lilien waren Tabellenführer. Dann kam der Brief. Die Steuerfahndung, so stand darin, habe ermittelt, dass der Verein 1,1 Millionen Euro an Lohnsteuer und Sozialabgaben nachzahlen muss. Der damalige Präsident Hans Kessler ging zur Mannschaft und sagte: "Das ist ein sehr emotionaler Moment für Darmstadt 98." Warum? Weil diese Forderung praktisch das Ende des Vereins bedeutete. Der Insolvenzantrag folgte, der Spielbetrieb ging zwar weiter, aber der damalige Manager Tom Eilers sagte: "Man muss der Tatsache ins Auge sehen, dass die Lampen auszugehen scheinen."

Manche Vereine zerbrechen an so einer Situation, in Darmstadt entdeckten auf einmal viele Menschen ihre Lilien wieder. Zum Spiel gegen Germania Ober-Roden kamen 5200 Zuschauer ins Stadion am Böllenfalltor, das zu diesem Zeitpunkt so marode war, dass man kaum eine Toilette besuchen konnte. (Es gab tatsächlich nur eine Damen-Toilette im ganzen Stadion.)

Das Spiel endete 2:2, aber das war natürlich völlig egal. Verein, Sponsoren und die Stadt merkten, dass es viele Menschen gibt, die es gut mit Darmstadt 98 meinen. Dann kam noch der FC Bayern zu einem Benefizspiel und zog tatsächlich noch mehr Zuschauer (20.000) an als Germania Ober-Roden. "Das ist schon mindestens zweitligareif", sagte Bastian Schweinsteiger damals. Sponsoren waren überzeugt und gaben Geld. Darmstadt durfte in die Regionalliga aufsteigen. Ein Jahr später wurde der Insolvenzantrag zurückgezogen.

Der Immobilienmakler

In den folgenden zwei Jahren floss jeder Euro in den Abbau von Verbindlichkeiten. Das freute natürlich jeden Gläubiger und trieb jeden Fan in die Verzweiflung, weil man sich irgendwie einreden muss, dass der Klassenerhalt vorm TSV Großbardorf und Unterhaching II ein Erfolg ist. Als aber selbst der in der Saison 2009/10 in Gefahr geriet, entschied sich der Verein, sein Schicksal einem Immobilienmakler anzuvertrauen.

Natürlich verkaufte der neue Trainer Kosta Runjaic zu diesem Zeitpunkt nicht mehr hauptberuflich Häuser, aber das war eigentlich sein erlernter Beruf, den er Jahre zuvor noch ausübte. Seine Trainererfahrung, die in der Bezirksliga bei Rüsselsheim begann, beschränkte sich weitgehend auf Kaiserslautern II und Wiesbaden II. Aber er hatte auch schon zwei Wochen beim FC Barcelona hospitiert. Vielleicht wusste das Präsident Kessler, vielleicht nicht, er sagte nur, dass man von den Fähigkeiten des neuen Trainers überzeugt sei.

Selten hatte ein Präsident ein so gutes Gespür. Runjaic hielt die Klasse, gewann im nächsten Jahr die letzten neun Spiele der Saison und stieg in die dritte Liga auf. Geld war übrigens immer noch keines da.

Kabinen wie vor 30 Jahren

Eigentlich abgestiegen

Das erste Jahr unter Runjaic in der dritten Liga 2011/12 gilt nun rückblickend als das letzte Jahr, in dem Darmstadt eine normale Saison ohne hochdramatisches Finale gespielt hat. Die Lilien hielten die Klasse, und die Stadt fing an darüber nachzudenken, ob man dieses auf Kriegsschutt erbaute Stadion vielleicht modernisieren sollte. Erste Maßnahme: stärkere Glühbirnen in die Flutlichtmasten zu schrauben.

Im zweiten Drittliga-Jahr rutschte Darmstadt nach acht Spielen in die Abstiegsränge, was Fußball-Deutschland nicht daran hinderte, diesen Trainer, der den bankrotten Verein mit dem maroden Stadion in der dritten Liga gehalten hat, unbedingt haben zu wollen. Der MSV Duisburg, damals Zweitligist, bekam Runjaic schließlich. Er stand am Ende mit einer Lilie als Gürtelschnalle am Spielfeldrand. Darmstadt erhielt wenigstens 100.000 Euro Ablöse. Runjaics Nachfolger Jürgen Seeberger hielt bis Dezember durch, dann wurde er wegen Erfolglosigkeit entlassen, es kam Dirk Schuster.

Als Schuster vorgestellt wurde, bekam der neue Präsident Rüdiger Fritsch einiges ab. Die Frankfurter Rundschau schrieb: "Einer für die Grätsche." Und der Tenor war klar: Hier sollte ein Trainer mit den Parolen "Gras fressen und Pfosten abbeißen" irgendwie die Klasse halten. Konzepte erwartete keiner.

Drei Saisonfinals

Es folgte das erste von drei spektakulären Saisonfinals: Am letzten Spieltag gegen die Stuttgarter Kickers, direkter Konkurrent und Schusters Ex-Verein, die ihn zu Beginn der Saison vom Hof gejagt hatten: Elton da Costa schoss in der 84. Minute das 1:1, und in den folgenden Minuten durfte jeder Verein nochmal die Latte treffen. Dann war Schluss und Darmstadt abgestiegen. Aber sie bekamen Signale vom DFB, dass der ein oder andere Verein eventuell Probleme mit der Lizenz haben könnte. Wochenlang hatte der SV keine Ahnung, in welcher Liga er spielen würde. Schließlich erwischte es ausgerechnet Rivale Kickers Offenbach mit dem Lizenzentzug. Die Lilien blieben drin.

Eine geregelte Saisonvorbereitung war so nicht möglich. Also schickten die Trainer, weil natürlich immer noch kein Geld da war, ihre Väter aus, um Spieler zu finden, die andere Vereine übersehen hatten. Eberhard Schuster ist für das Scouting im Osten zuständig, der Vater von Co-Trainer Sascha Franz deckt den Westen ab. Sie bauten sich notgedrungen eine Mannschaft aus Gescheiterten zusammen. Spieler, die woanders nicht mehr gewollt wurden. Darunter den Stürmer Dominik Stroh-Engel, Torquote damals bei Wehen Wiesbaden: drei Treffer in 34 Spielen.

Die Geschichte nahm ihren Lauf. Darmstadt wurde Dritter und spielte die mittlerweile legendäre Relegation gegen Arminia Bielefeld. Eine 1:3-Heimniederlage im ersten Spiel, eigentlich keine Chance mehr. Dann drei Tore auf der Alm, 3:1 — Verlängerung. Bielefeld mit dem 2:3 und schließlich der Schuss von Elton da Costa in der 122. Minute. Im Gegenzug schoss Bielefeld übrigens noch an den Pfosten und ein Darmstädter musste auf der Linie retten. Knapper kann man nicht aufsteigen.

Kalte Duschen in der ersten Liga?

Das Stadion soll jetzt übrigens endlich umgebaut werden, 2016 soll alles fertig sein. Die Kabinen im Stadion beschreibt Schuster so: "Die sind so, wie sie vor 30 Jahren in der Bundesliga ausgesehen haben. Und die Dusche ist ab und zu mal kurz kalt." Nun braucht dieser Verein mit der kalten Dusche am Sonntag nur noch einen Heimsieg gegen den FC St. Pauli, um in die höchste deutsche Spielklasse aufzusteigen. Ein Hauptkonkurrent ist übrigens Kaiserslautern mit Trainer Runjaic. Von der aus der Not zusammengebauten Mannschaft der Gescheiterten, die als faktischer Absteiger 2013 in die Drittliga-Saison ging, werden an diesem Sonntag noch sechs oder sieben Spieler in der Startelf stehen.

Der Fußball mag immer kommerzieller und berechenbarer werden, aber er gibt sich wirklich alle Mühe noch solche Geschichten zu erzählen, die nach acht Jahren in dem Satz enden: "Der SV Darmstadt 98 kann in die Bundesliga aufsteigen."

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