China:Eine Woche Anstehen für einen Kindergartenplatz

China: Nur wer drin ist, darf mitspielen: Kindergartenplätze sind in China rar. Eltern und Großeltern müssen lange Wartezeiten in Kauf nehmen.

Nur wer drin ist, darf mitspielen: Kindergartenplätze sind in China rar. Eltern und Großeltern müssen lange Wartezeiten in Kauf nehmen.

(Foto: Wang Zhao/AFP)

Chinesische Eltern zelten vor dem Kindergarten, manche schlafen auf Stühlen. Alle wollen einen der wenigen Plätze ergattern. Der Wettbewerb im Land beginnt immer früher.

Von Kai Strittmatter, Peking

Herr Li, 68, ehemaliger Ingenieur in einem Staatsbetrieb, ist eigentlich ein ausgeschlafener Typ. Um vier Uhr morgens ist es zum Sonnenaufgang noch ein Weilchen, im Universum chinesischer Großeltern ist das die Zeit für die ersten Lockerungsübungen im Freien. Li streckte seine Glieder und machte seinen Morgenspaziergang, als er am Montag an dem Tor des "Brown-Kindergartens" vorbeikam, der im Hof seiner Wohnsiedlung residiert. Li traute seinen Augen nicht: Da waren ihm tatsächlich schon welche zuvorgekommen. Mehr als ein Dutzend Nachbarn hatten sich bereits niedergelassen vor der Tür, auf Hockern, Matten, Liegestühlen. Herr Li verlor keine Minute. "Aber als ich mich einreihte", sagt er, "da war ich schon Nummer 23." Und nur zehn Minuten später hatten sie die Hundert voll.

Am vergangenen Montagmorgen um 4.10 Uhr in der Früh stehen hier in der Jinrun-Siedlung im Süden Pekings also einhundert Familien Schlange, um einen Kindergartenplatz für ihren Nachwuchs zu ergattern. Sie stehen da und warten auf die Einschreibung. Die Einschreibung am Samstag. Fünf Tage später. Die Einschreibung für das Jahr 2016. "Ich weiß", sagt Herr Li und zuckt mit den Schultern: "Die letzten Jahre bildete sich die Schlange immer erst zwei Tage vorher. Aber was soll man machen? Wenn einer anfängt . . ."

Darum gibt es Überwachungskameras in chinesischen Kindergärten

Jetzt stehen, liegen, fläzen sie da. Die einen haben ihr Zelt mitgebracht, die anderen ihr Auto. Herr Li schläft nun schon vier Nächte in einem Stuhl. Das Wetter, immerhin, meint es gut mit ihm und den anderen Wartenden. Es ist mild, abends spielen sie Schach und Karten. "Nur noch eine Nacht", sagt er. "Das geht schon. Meine Kinder müssen arbeiten, die können nicht hier sein." Alles für die zweijährige Enkelin.

"Wir wollen nicht, dass unsere Kinder in einen Kindergarten gehen müssen, der weiter weg liegt", sagt die Dame hinter Herr Li, Nummer 24: "Das erschöpft unsere Kinder zu sehr." Da steht eine Mutter mit einem Neugeborenen auf dem Arm, eine andere Mutter, Frau Du, hat sich extra von der Arbeit freigenommen: "Und dabei dachte ich, zwei Tage sollten genügen. Jetzt sind es fünf Tage." Sie schnauft. Tags zuvor hat sie ein Fieberschub heimgesucht. Frau Du winkt ab: Geht schon. "Dabei gibt es in dem Kindergarten nicht einmal Überwachungskameras, das finden wir nicht so gut." Seit ein paar Skandale durch die Presse gingen von Kindergartenlehrern, die Kinder schlugen, werben viele Kindergärten mit Kameras.

China: Wer es sich leisten kann, lässt warten: Zwölf Stunden kosten 300 Yuan (45 Euro), die Nacht inklusive gibt's für 500.

Wer es sich leisten kann, lässt warten: Zwölf Stunden kosten 300 Yuan (45 Euro), die Nacht inklusive gibt's für 500.

(Foto: AFP)

Manche Familien wechseln sich beim Warten ab. "Wenn mein Sohn von der Arbeit kommt um acht, macht er die Schicht bis Mitternacht. Dann muss er ins Bett, und wir kommen zurück", sagt die 60-jährige Frau Wang. Andere bezahlen jemanden, der für sie einspringt: Zwölf Stunden kosten 300 Yuan (45 Euro), die Nacht inklusive gibt's für 500. Herr Guo, Vater eines Zweijährigen, sagt, er sei in seinem ganzen Leben noch nie Schlange gestanden, ja, er verweigere sogar die obligatorische alljährliche Ferienreise zur Goldenen Woche im Oktober, weil da ganz China nichts anderes tue als im ganzen Land Schlange zu stehen. "Und jetzt" - er deutet mit einem resignierten Lachen auf die in der Mittagshitze dösenden Menschen um sich herum - "jetzt stehe ich vor meinem eigenen Haus Schlange." Aber dann hellt sich seine Mine auf: "Ich habe nur das Beste vom Besten." Tatsächlich: Zelt, Markise, Campingstuhl, alles nagelneu und vom Feinsten. "Und morgen bin ich ein freier Mann."

Am vierten Tag kommt die Polizei

Am vierten Tag kommen die Leute vom Nachbarschaftskomitee. Und die Polizei. Unangemeldete Zusammenrottung. Strenge Befragung: Es wird doch kein Chaos ausbrechen, wenn es an die Einschreibung geht? "Von wegen", sagt Frau Wang. "Wir haben uns selbst organisiert: 20 Familien bilden ein Team, jedes Team hat einen Repräsentanten gewählt." Und wenn am Tag der Einschreibung jemand versucht, vorzudrängeln? "Pah!", Frau Wang lächelt. "Keine Chance: Die Männer werden eine Mauer bilden, um unsere Schlange abzuschirmen. Und die Frauen gehen dann rein und melden die Kinder an."

Herr Guo, der sich eben noch darauf gefreut hat, bald wieder ein freier Mann zu sein, scheint mit einem Mal nicht mehr so sicher zu sein. "In China heißt es oft, die Kinder dürften nicht schon an der Startlinie zurückbleiben", sagt er. "Aber der Druck ist groß." Wenn einer als einer von 1,3 Milliarden geboren wird, bekommt das Wort Konkurrenz eine ganz andere Bedeutung. "Ich war ja immer einer von denen, die ihrem Kind eine freie und unbeschwerte Kindheit wünschten", sagt Herr Guo. Er blickt auf die 20 Camper vor sich und die 80 hinter sich. "Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher."

Dann kommt der Samstag. Herr Guo, Frau Wang, Frau Du, Herr Li und der Rest der Hundertschaft aus der Jinrun-Siedlung dürfen nach mehr als 120 Stunden im Liegestuhl, im Zelt und auf dem Autositz die Anträge für ihre Kinder und Enkel abgeben. Das Chaos bleibt aus. Das Warten geht weiter. Die Anträge, lässt der Kindergarten wissen, würden nun sorgfältig geprüft.

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