Preise in Cannes:Pariser Kriegsgebiet 

Die ironischen Coen-Brüder leiteten die Jury in Cannes. Bei den Preisen ging es um Kino als Aufbaunahrung.

Von Tobias Kniebe

Ein Lieblingssport der Kritiker in Cannes ist es, über den Geschmack der Jury zu spekulieren, die am Ende die Goldenen und Silbernen Palmen vergibt. Weil es aber unmöglich ist, so unterschiedliche Persönlichkeiten wie die Schauspielerin Sienna Miller oder den kanadischen Regiewunderknaben Xavier Dolan auf ein gemeinsames Kinoideal festzunageln, konzentriert sich das Spiel auf die Jurypräsidenten.

Das waren in diesem Jahr die Brüder Joel und Ethan Coen, die für ihre ironische, oft bizarre Weltsicht berühmt sind, weshalb dann auch ironisch-bizarre Wettbewerbsbeiträge wie Yorgos Lanthimos dystopische Paartherapiestunde "The Lobster" hoch gehandelt wurden.

Der gewann dann auch, aber nur den Jurypreis. Denn so gut solche Gleichsetzungen funktionieren - es kommt regelmäßig anders. Die Goldene Palme, der Hauptpreis, ging an einen gradlinig-realistischen, gänzlich unironischen Film: "Dheepan" von Jacques Audiard. Eine nicht unumstrittene Entscheidung, ein paar französische Kritiker waren nicht einverstanden, und doch war dies der am klarsten durchdachte und konsequenteste Film eines insgesamt wild zusammengewürfelten, eher enttäuschenden Wettbewerbs.

Preise in Cannes: Jacques Audiards Siegerfilm "Dheepan" verfolgt das Schicksal dreier Flüchtlinge aus Sri Lanka, die es nach Paris verschlagen hat.

Jacques Audiards Siegerfilm "Dheepan" verfolgt das Schicksal dreier Flüchtlinge aus Sri Lanka, die es nach Paris verschlagen hat.

(Foto: Cannes Film Festival)

Nach "Ein Prophet", der vor sechs Jahren hier schon den Grand Prix gewann, hebt dieser Preis Audiard nun endgültig aus der Erbengeneration der Nouvelle Vague heraus, in eine eigene Klasse.

Sehr französisch ist der Film aber nicht, vielmehr blickt er mit völlig fremdem Blick auf sein Land - durch die Augen seiner Hauptfigur. Dheepan ist ein ehemaliger Kämpfer der Tiger-Rebellen in Sri Lanka, der in den Pariser Sozialwohnungsblöcken Asyl und einen Job als Hausmeister gefunden hat. Gespielt wird er von Jesuthasan Antonythasan, der tatsächlich als Kindersoldat bei den Tamil Tigers war und seine Erfahrungen inzwischen in mehreren Romanen niedergelegt hat. Er ist allenfalls Teilzeitschauspieler und hier ebenso Erzähler wie Audiard.

Für diesen Blick sind die frankoarabischen Banden und Drogengeschäfte in den Häuserblocks ein Fakt im Kampf ums Überleben, besonders, wenn man andere schützen will - wie Dheepan seine falsche Ehefrau und Tochter, mit denen er den Asylbehörden eine Scharade vorspielt, bis echte Gefühle ins Spiel kommen.

So wird der Film im letzten Teil ein Genrefilm, ein Mann sieht rot - und besonders das Ende muss Nostalgiker der Grande Nation wie ein Schlag ins Gesicht treffen. Denn die Familie der Davongekommenen findet tatsächlich Frieden, doch anderswo - die französischen Banlieues erscheinen als unrettbar verlorenes Kriegsgebiet.

Für das ohnehin zerrissene Frankreich nach den Charlie Hebdo-Attentaten ist dieses filmische Fazit sicher "nicht hilfreich", um das Merkel-Wort aus der deutschen Sarrazin-Debatte zu zitieren. Ist es denn die Aufgabe des Kinos, hilfreich zu sein? Auf gar keinen Fall. Ganz so eindeutig war die Position der Jury dann doch nicht - vielmehr schien sie in dieser Hinsicht ähnlich gespalten zu sein wie viele der Filme im Wettbewerb selbst.

Zum Beispiel bei den Schauspielerpreisen. Bei den Darstellerinnen wurde das Palmenblatt geradezu symbolisch geteilt. Eine Hälfte bekam die dreißigjährige Amerikanerin Rooney Mara für ihren Auftritt in Todd Haynes "Carol" - was man nur als demonstrative Abwertung ihrer Partnerin Cate Blanchett deuten kann, mit der zusammen sie ein hochelegantes lesbisches Duo in den Fifties gab. Vielleicht siegte Maras geschickt reduziertes Spiel des unterwürfigen Augenaufschlags, weil Blanchett als Nüstern blähende Neurotikdarstellerin (siehe ihr Oscar-Auftritt bei Woody Allen vor zwei Jahren) langsam allen auf die Nerven geht. Das musste dann aber noch mit einer sogenannten "echten" Frau ausbalanciert werden, Emmanuelle Bercot als Tony in "Mon Roi" von Maïwenn. Der Film zeigt sie demonstrativ unglamourös und irdisch - mit dem klaren Ziel, auch Normalfrauen einen filmischen Märchenprinzentraum zu gönnen, selbst wenn alles böse ausgeht.

Großer Kinoglamour gegen gesellschaftlich hilfreiche Aufbaunahrung - Spuren dieses Widerspruchs fanden sich auch im männlichen Darstellerpreis für Vincent Lindon. Dieser war ja immer eine Art Supermacho des französischen Films, zum Beispiel in seinen Auftritten bei Claire Denis. Wie diese Leinwandpersona jetzt in Stephane Brizés "La Loi du Marché" langsam unterhöhlt und ausgegraut wird, gleichermaßen durch die Zumutungen des Arbeitsmarkts wie der staatlichen Arbeitslosenbetreuung, ist toll anzusehen, das macht Lindon wunderbar minimalistisch. Der Film selbst aber steht doch eher für den beleidigten Blick der Zukurzgekommenen, der mit der Weltsicht etwa eines Jacques Audiard eigentlich gar nicht kompatibel ist.

Die Sieger von Cannes 2015

Goldene Palme

"Dheepan", von Jacques Audiard

Großer Preis der Jury

"Saul fia (Son of Saul)", von László Nemes

Preis der Jury

"The Lobster", von Yorgos Lanthimos

Bester Schauspieler

Vincent Lindon: "La loi du marché", von Stéphane Brizé

Beste Schauspielerin

Rooney Mara: "Carol", von Todd Haynes,

Emmanuelle Bercot: "Mon roi", von Maïwenn

Bester Regisseur

Hou Hsiao-hsien, für "The Assassin"

Bestes Drehbuch

"Chronic", von Michel Franco

Ehrenpreis des Festivals

Agnès Varda

Endgültig verfliegen die spielerischen Ironie-Erwartungen an die Jury dann mit dem Grand Prix für "Saul Fia / Son of Saul", der für den Regiedebütanten László Nemes ein echter Triumph ist - zumal angesichts des autoritären und antisemitischen Klimas im Ungarn der Ära Victor Orbán, aus dem er kommt. Ein radikaler Konzeptfilm über die Arbeitshölle der jüdischen Sonderkommandos in den Gaskammern von Auschwitz.

Dabei ist das klaustrophobe Vier-zu-Drei-Kastenformat genauso bewusst gewählt wie die erste Einstellung - ein Mann geht in der Unschärfe auf den Betrachter zu, bis er im Close-up in den Fokus kommt, und fast genauso dicht wie in diesem Moment wird die Handkamera dann den ganzen Film über an ihm dranbleiben.

Er muss nackte Leichen herumschleifen, ständig wiederholen sich die Entkleidungsrituale vor und die Aufräumrituale nach dem Einsatz des tödlichen Gases - aber alles bleibt in der halben Unschärfe gerade so am Rande des Blickfelds , dass der Horror des Schauens noch aushaltbar ist. Einige Kritiker fanden diese Idee zwar faszinierend, aber in ihrer technischen Cleverness auch wieder abstoßend. Ist "Son of Saul" nur ein allzu geschickter Tanz am Abgrund absoluter Tabus?

Nein, denn dazu fehlt dem Film jedes planmäßige Spekulieren auf Gefühle. Obwohl im Hintergrund ein bewaffneter Aufstand der Gefangenen geplant wird, ist die Hauptfigur auf die Obsession fixiert, die Leiche eines Jungen aus der Gaskammer von einem Rabbi segnen zu lassen. Das schadet erkennbar nur den Ausbruchsplänen, wird niemanden retten und nichts verändern. Die Obsession, zumal im Kino, bedarf aber auch keiner Rechtfertigung. Sie befreit die Zuschauer, diesem Film ganz ohne Zwang gegenüberzutreten.

Auf der Pressekonferenz nach der Preisverleihung waren es dann die beiden Juroren Sienna Miller und Xavier Dolan, die ein gemeinsames Kinoideal fanden - und erzählten, warum ihnen gerade dieses Filmerlebnis unvergesslich geblieben ist.

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