Konzert in Luzern:Ein kleiner Teufel oder doch ein Gott?

Konzert in Luzern: Der Pianist schickt sich an, mit seinem Flügel zu einer Doppelschwinge zu verschmelzen, um den Raum des Konzertsaals ins Unermessliche auszudehnen.

Der Pianist schickt sich an, mit seinem Flügel zu einer Doppelschwinge zu verschmelzen, um den Raum des Konzertsaals ins Unermessliche auszudehnen.

(Foto: Conrad Surber)

Es klingt wie der Kommentar zum eigenen Leben: Keith Jarrett gibt in Luzern eines seiner grandioseren Solokonzerte.

Von Volker Breidecker

"Alles war so einfach, Jarrett", hatte der Lyriker Michael Krüger dem Musiker vor Jahren zugedichtet. Jetzt aber war es schwierig, an Karten für eines seiner beiden Konzerte zu kommen. Sie fanden statt aus Anlass des 70. Geburtstags des am 8. Mai 1945, am Tag der Befreiung des europäischen Kontinents, geborenen Amerikaners Keith Jarrett. Denn beide Konzerte waren in Windeseile ausverkauft. Erstaunliches war dann vom ersten Auftritt vor einer Woche in Neapels Teatro di San Carlo zu hören: Zwischenrufern mit gezückten Handys und Hüstlern sei das als unberechenbar verrufene Genie diesmal bei bester Laune und statt mit Zornesausbrüchen mit freundlichem Zureden begegnet. Gescherzt habe er gar mit dem Publikum, einmal habe er dann die Bühne für einen Toilettenbesuch verlassen. So leicht, so einfach, einen vermeintlich Schwierigen als einen Künstler zu erleben, der seinem Publikum nichts anderes abverlangt als konzentriertes Zuhören.

So dann auch an diesem Pfingstwochenende in Luzerns Konzertsaal, dem von Jean Nouvel erbauten KKL: Keith Jarrett, ein "Zisterzienser der strengen Observanz", wie ihn sein Biograf Wolfgang Sandner nennt, war selten so aufgeräumt und unbeschwert wie hier zu erleben. Bei seinen Solokonzerten verzichtet der Pianist auf Noten, er trifft also keine Vorkehrungen gegen den Zufall, will sich und sein Material, das er in freier Improvisation erspielt, dem unbegrenzten Fluss der Einfälle und dem assoziativen Strom von Erinnerungen überlassen. Und sie quellen wie aus unerschöpflichen Vorräten eines musikalischen Weltgedächtnisses hervor - von dort, wo die Hierarchien von "E" und "U"-Musik eingeebnet sind und zwischen Alter und Neuer Musik, zwischen Jazz, Blues und Klassik, Rock und Folk, zwischen Kunst- und Kinderlied keine Grenzen mehr gezogen werden.

Jarrett bot nichts weniger als die beglückende Improvisation einer Werkschau

Der kleine Mann, der aus einer winzigen Tür am Bühnenrand tritt, macht sich ohne Hast auf den langen Weg zu dem in der Mitte postierten Konzertflügel, umkreist zunächst den Klaviersitz, als habe dort schon ein unsichtbarer Mitmusiker Platz genommen: Keith Jarrett gibt sich dann mit den ersten, leisen Anschlägen auf der Tastatur nicht als der Herr über das Piano aus, sondern als dessen Mitspieler: Das Wunder dieses Konzerts beruht von nun an darauf, dass Jarrett den Tönen und Klängen lauscht und folgt, die sich dem eigenen Spiel seiner Hände verdanken.

Deshalb folgt der Pianist auch den Melodien mit seinem Atem und mit seiner Stimme, während sein Körper sich im Spiel hebt und senkt in einer Weise, dass er mit dem Klangkörper, dem geöffneten Flügel, wie zu einer Doppelschwinge verschmilzt, quasi flugbereit, um den Raum des Konzertsaals ins Unermessliche auszudehnen.

Was Jarrett in Luzern musikalisch bot, war die Improvisation einer Werkschau, einer die Ohren des Publikums beglückenden Retrospektive auf die Topografie seines Gesamtwerks. Dazu wählte er die Form rund fünf- bis zehnminütiger Etüden, die unterdessen an die Stelle der langen Improvisationen seiner solistischen Anfänge getreten sind.

Von "Bregenz" bis "Rio" über "Paris", "Vienna" und "Tokyo", durch Mailands "La Scala" und New Yorks "The Carnegy Hall" - wie die Mitschnitte seiner immer herausragenden Livekonzerte benannt sind - führte die Reise.

In humorvoll gestimmten Ansprachen an das Publikum gab Jarrett manchen Stücken Widmungen mit auf den Weg - an seine noch in Kakanien geborene Großmutter, an den jüngst verstorbenen Großmeister des Blues B.B. King -, einen Weg, der sich sogar mit dem Klangmaterial von Wiegenliedern - es sind wahre Lullabies - wie zu einer Erzählung, dem Report seines persönlichen Lebenswegs rundete.

Zu allerlei Scherzen aufgelegt, verließ Jarrett dann auch mal die Bühne für einen Espresso, wenn er vor einem zuvor geschlagenen Anfangston zurückschreckte, setzte er ein andermal ein herzhaftes Lachen an die Stelle eines Schlussakkords. Mit zunehmendem Alter eignet dem ewigen Jüngling nun etwas pflanzenhaft Fragiles - okay, wenn's sein muss, ist er auch ein Derwisch, ein kleiner Teufel oder ein Gott, jedenfalls ein sterblicher.

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