Europa League:Für die Ikonensammlung

Der FC Sevilla hat einen Hang zum Märchenhaften. Kein Spieler verkörpert dies so sehr wie Doppeltorschütze Carlos Bacca.

Von Oliver Meiler

Natürlich ist die Versuchung wieder groß, der Märchenwelt die passenden Bilder und Worte abzuringen. Zumal in Sevilla, einem Ort, gebadet in Leidenschaft und Pathos, in Mythengläubigkeit und Hang zum Ikonoklastischen. Und vielleicht passt kein Foto besser zur gegenwärtigen Stimmung als jenes von Carlos Bacca, dem kolumbianischen Mittelstürmer des FC Sevilla. Es zeigt ihn, wie er nach dem 3:2 im Endspiel in der Europa League gegen die ukrainischen Arbeiter von Dnjepr Dnjepropetrowsk hinter den elektronischen Werbetafeln im Nationalstadion von Warschau kniet, Arme und Kopf zum Himmel gereckt. Der Fischersohn aus Barranquilla, der vor nicht allzu langer Zeit in seiner Heimat im Nebenjob Tickets von Buspassagieren abriss und erst mit 26 Jahren nach Europa kam, hatte zwei Tore erzielt, darunter das entscheidende 3:2. Eine Figur - nun ja - wie aus dem Märchen. Findet Bacca selbst auch. Und dankt ständig dem Himmel. Da fließt alles zusammen in einem großen, warmen Gefühlsbad.

Der FC Sevilla ist plötzlich ganz groß. Neun Jahre nur brauchte er, um sich in der Elite des europäischen Fußballs zu etablieren. Der Verein hat seit 2006 viermal die Europa League gewonnen, den früheren Uefa-Cup, zuletzt zweimal in Serie und insgesamt so oft wie kein anderer Klub, einmal mehr als die gestandenen Größen Juventus Turin, FC Liverpool und Inter Mailand. Die Europa League mag die ärmere Schwester der Champions League sein, die ihre vielen Spiele jeweils zu kuriosen, fußballuntypischen Zeiten austrägt. Doch das kümmert in Sevilla niemanden. Die Europa League ist dort zum Fetischwettbewerb geworden. So sehr, dass man sich fragt, ob das, was nun kommt, die Steigerung von allem, diese Vorliebe verdrängen kann: Zum ersten Mal in der Geschichte qualifiziert sich der Sieger der Europa League nämlich automatisch für die Königsklasse. Mit seiner Platzierung in der spanischen Meisterschaft hätte es Sevilla nicht geschafft: Man wurde Fünfter, einen Punkt hinter dem FC Valencia und zwei Punkte hinter dem Dritten, Atlético Madrid.

Final de la Europa League entre el Sevilla y el DniPro En la imagen Bacca celebra su segundo gol

Beglückt von sich und dem Augenblick: Doppeltorschütze Carlos Bacca kniet in Warschau.

(Foto: imago/Marca)

Der Umweg über Warschau hat sich also gelohnt. Und so werden nun in der kommenden Saison sagenhafte fünf spanische Vereine in der Champions League mittun, die Herrschaft des Fútbol noch etwas verlängern. Die Sportzeitung Marca, die in solchen Fällen ihren Patriotismus nur ungern verbirgt, hat eine hübsche Grafik mit den fünf Vereinswappen über dem Uefa-Logo gefertigt, dazu der Titel: "Gib mir fünf!"

Aber zurück zum andalusischen Märchen. Es ist noch nicht lange her, da stand der FC Sevilla wie manch ein anderer spanischer Verein vor einem Berg von Schulden, der sich in den Jahren des kopflos fröhlichen Größenwahns angehäuft hatte. Vor jeder Saison mussten die Besten verkauft werden, um die Buchhaltung zu sanieren. Das Team wurde jeweils entkernt und zerlegt. Doch der gefeierte Sportdirektor Ramón Rodríguez Verdejo lockte für wenig Geld immer neue Figuren mit Potenzial an, die sich zu einem erstaunlich kompetitiven Team formen ließen. Zerlegen, zusammenbauen. "Monchi", ein ehemaliger Torhüter mit bescheidener Karriere, besitzt dieses offenbar doch recht rare Gefühl dafür, wie sich die Balance eines Teams selbst dann retten lässt, wenn man ihm die Achse abmontiert. Im Sommer 2014 ließ man Ivan Rakitic und Alberto Moreno ziehen, zwei prägende Spieler. Es gab Tränen zum Abschied. Vermisst hat sie aber niemand.

Sevillas aggressives, stürmisches Spiel rotiert nun ganz um den Argentinier Ever Banega, der auch zum besten Akteur des Endspiels gewählt wurde. In Spanien nennen sie den Mittelfeldspieler einen "todocampista", weil man ihn überall auf dem Platz antrifft und natürlich zumeist dort, wo der Ball ist. Oft steht ihm José Antonio Reyes zur Seite, ein Sohn der Region und ehemaliger Nationalspieler mit viel internationaler Erfahrung, der die vielen jüngeren Kollegen mit Pädagogik dirigiert. Für die rechte Außenbahn holte "Monchi" für wenig Geld den flinken Katalanen Aleix Vidal, für den Barça viel Geld bezahlen will. Noch viel mehr Geld würden große Vereine aber natürlich für den kolumbianischen Himmelsanbeter bezahlen. Bacca hat Offerten aus halb Europa. 28 Tore gelangen ihm in dieser Saison, alle erzielt aus unmittelbarer Tornähe. Die Gewinnmarge wäre beträchtlich: Für Bacca überwies Sevilla vor zwei Jahren acht Millionen Euro an den FC Brügge. Zuletzt lag sein Marktwert bei 20 Millionen - vor dem Finale.

Die vergangenen 20 Endspiele

1996 Bayern München - G. Bordeaux 2:0 / 3:1

1997 Schalke 04 - Inter Mailand i.E. 4:1

1998 Inter Mailand - Lazio Rom 3:0

1999 AC Parma - Olympique Marseille 3:0

2000 Galatasaray - FC Arsenal i.E. 4:1 (0:0)

2001 FC Liverpool - CD Alaves n.V. 5:4

2002 Fey. Rotterdam - Bor. Dortmund 3:2

2003 FC Porto - Celtic Glasgow n.V. 3:2

2004 FC Valencia - Olympique Marseille 2:0

2005 ZSKA Moskau - Sporting Lissabon 3:1

2006 FC Sevilla - FC Middlesbrough 4:0

2007 FC Sevilla - Espa. Barcelona i.E. 3:1 (2:2)

2008 Z. St. Petersburg - Glasgow Rangers 2:0

2009 S. Donezk - Werder Bremen n.V. 2:1

2010 Atlético Madrid - FC Fulham n.V. 2:1

2011 FC Porto - Sporting Braga 1:0

2012 Atlético Madrid - Atletic Bilbao 3:0

2013 FC Chelsea - Benfica Lissabon 2:1

2014 FC Sevilla - Benfica Lissabon i.E. 4:2 (0:0)

2015 FC Sevilla - Dnjepr Dnjepropetrowsk 3:2

Von überall gelockt wird auch Unai Emery. Der 43-Jährige wird mittlerweile zu den prominenten Vertretern einer neuen, goldenen spanischen Trainer-Generation gezählt - zusammen mit den ungefähr gleichalten Luis Enrique und Pep Guardiola. Der AC Mailand und der SSC Neapel sollen um Emery werben. Und bei Real Madrid stand er auch schon auf der Liste. Nach dem Endspiel in Warschau wich er allen schwierigen, weil sentimentalen Fragen aus: "Lasst uns den Moment genießen", sagte er.

Vielleicht dauert der Moment ja diesmal etwas länger an. Die Champions League bringt viel Geld ein, viel mehr als die Europa League. Und so kann es sein, dass der FC Sevilla einmal nicht zerlegt wird und neu zusammengebaut werden muss, dass diesmal alle bleiben, vereint im Glück. Wie im Märchen.

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