MH17-Abschuss über Ukraine:Blogger strafen Moskau Lügen

Eliot Higgins

Das Twitter-Profil des Bloggers Eliot Higgins. Mit Hilfe von Social-Media-Accounts und YouTube-Videos enthüllen der Brite und sein Team Truppenbewegungen in Krisengebieten.

(Foto: Twitter)
  • Die Investigativplattform Bellingcat um den Blogger Eliot Higgins behauptet: Russische Satellitenbilder zum Abschuss des Passagierflugzeugs MH17 über der Ukraine sind Fälschungen.
  • Die Bilder sollten demnach den Angriff der ukrainischen Armee unterschieben.
  • Blogger Eliot Higgins gilt seit seinen Recherchen zum syrischen Bürgerkrieg als Pionier eines neuen investigativen Bürgerjournalismus.
  • Die Investigativplattform Bellingcat gründete Higgins 2014 mit Hilfe einer Kickstarter-Kampagne.

Von Markus C. Schulte von Drach und Julian Dörr

Als am 17. Juli 2014 über der Ostukraine eine Boeing 777 der Malaysia Airlines von einer Rakete abgeschossen wurde, standen für viele die Täter schnell fest: die prorussischen Separatisten. Aus Russland aber kam Entlastungsmaterial, Satellitenbilder sollten belegen, dass es einen weiteren Verdächtigen gab: die ukrainische Luftabwehr.

Eine Gruppe um den investigativen Blogger Eliot Higgins hat nun eine Analyse veröffentlicht, die zu dem Schluss kommt: Die russischen Aufnahmen sind Fälschungen.

Moskau zufolge sollten die Bilder belegen, dass zum Zeitpunkt des Angriffs auf MH17 in der Nähe des Abschussortes zwei mobile Buk-Raketenwerfern der Ukrainer im Einsatz waren. Mit einer Rakete eines solchen Geräts wurde das Passagierflugzeug vermutlich zerstört, 298 Menschen kamen dabei ums Leben.

Eine Analyse von zwei der Satellitenbilder zeigt allerdings nun, dass Russland die Separatisten nicht nur mit Militärgerät und Soldaten unterstützt, sondern auch mit Fehl- und Desinformationen.

Die Satellitenbilder sind falsch datiert und manipuliert

Zehn Experten des internationalen investigativen Rechercheteams Bellingcat haben die beiden Bilder geprüft und behaupten: Sie wurden falsch datiert und mit einem Bildbearbeitungsprogramm manipuliert. So wurden offenbar Wolken künstlich hineingearbeitet, um Details darunter zu verdecken - was einen Vergleich mit anderen Aufnahmen erschwert. Die Bilder, so das Ergebnis von Bellingcat, stammten eindeutig von einem Zeitpunkt vor dem Abschuss von MH17. Ein Versehen schließt die Investigativplattform, die gerade landaus, landein zitiert wird, aus. Doch wer steckt hinter der Organisation, für die Journalisten, Wissenschaftler und Studenten arbeiten?

Gegründet wurde Bellingcat von dem Briten Eliot Higgins, der sich bereits als Blogger unter dem Pseudonym Brown Moses einen Namen gemacht hat. Peter Bouckaert von Human Rights Watch etwa lobte ihn als eine der besten Quellen, wenn es darum geht, den Einsatz von Waffen in Syrien zu beobachten.

Higgins und das Team von Bellingcat nutzen öffentlich zugängliche Informationen wie Berichte, Videos und Fotos aus Konflikten und Kriegen sowie Satellitenbilder, um zu prüfen, wo genau welche Ereignisse stattgefunden haben, welche Informationen tatsächlich zusammen passen, und wo es Widersprüche gibt. Egal welche Spuren ein bestimmtes Ereignis im Netz hinterlässt: Eliot Higgins und sein Team investigativer Bürgerjournalisten tragen sie zusammen. Sie lesen Fährten wie digitale Spürhunde. Von Facebook-Posts und Schnappschüssen schließen sie auf Truppenbewegungen.

Vom "World of Warcraft"-Zocker zum journalistischen Hoffnungsträger

Aus frei zugänglichem Material destilliert Higgins Informationen, die viele Geheimdienste der Welt aufhorchen lassen. Deshalb wird er jetzt gefeiert, als Entdecker der digitalen Möglichkeiten, als Zukunft des Journalismus. Google lud Higgins zur Konferenz "Investigathon" nach New York, beim britischen Guardian gab er ein Seminar zu investigativer Recherche.

Für Eliot Higgins, Jahrgang 1979, begann diese steile Karriere auf seinem Sofa in Leicester, Mittelengland. Higgins war Finanzsachbearbeiter, zuerst bei einem Hersteller von Damenunterwäsche, dann bei einer Wohnverwaltung für Flüchtlinge. Als er 2012 seinen Job verlor, brauchte er ein neues Ziel, auf das er seine Energie fokussieren konnte. Denn das Online-Rollenspiel "World of Warcraft" hatte er seiner Frau zuliebe schon aufgegeben.

Nuray stammt aus Istanbul, Higgins hat sie über den Instant-Messaging-Service ICQ kennengelernt. Sie wollte dort ihr Englisch verbessern, er koordinierte seine 40 Mann starke Warcraft-Kampftruppe. Heute analysiert Higgins vom Sofa aus Militäraktionen in Krisengebieten wie Syrien und der Ukraine, während er nebenbei auf die beiden Kinder aufpasst und seine Frau in der Post-Filiale arbeitet.

Ein-Mann-Nachrichtenagentur

Initialzündung für die Karriere des Investigativ-Bloggers war der Arabische Frühling. Higgins verfolgte die Beiträge im Fernsehen, war frustriert über die Berichterstattung der Medien. YouTube-Videos, Twitter-Accounts, Facebook-Posts, die Informationen waren da, aber keiner nutzte ihr volles Potenzial.

Im syrischen Bürgerkrieg avancierte Higgins dann zum Experten. Vom heimischen Sofa aus deckte er auf, dass die syrische Regierung verbotene Streubomben einsetzte - obwohl Machthaber Baschar al-Assad dies vehement leugnete. In Zusammenarbeit mit der New York Times legte er den Schmuggel kroatischer Waffen über Saudi-Arabien bis ins syrische Kriegsgebiet offen.

Higgins scannte YouTube-Kanäle und Facebook-Posts von Soldaten, er verglich Detail-Aufnahmen von Kriegsgerät und Munition. Und konnte so geheime Truppenbewegungen nachzeichnen, ganz legal: Er hackte nicht, er hörte niemanden ab. Seine Erkenntnisse veröffentlichte er zunächst auf seinem eigenen Blog unter dem Pseudonym Brown Moses. Der Name führte zu diskriminierenden und antisemitischen Kommentaren, war aber nur ein Songtitel von Frank Zappa.

Selbst die Positionen von IS-Kameras kann Higgins bestimmen

Immer intensiver setzte Higgins sich mit Waffen und Munition im syrischen Bürgerkrieg auseinander, wurde zum Experten, zur "Ein-Mann-Nachrichtenagentur", wie er sich selbst bezeichnete. Zitiert wurde er vom Guardian, der New York Times, von erfahren Kriegsberichterstattern. Und das ohne ein Wort Arabisch zu sprechen, ohne entsprechende Ausbildung, ohne Politik- oder Journalismus-Studium.

Als im vergangenen August Henker des Islamischen Staates den US-amerikanischen Journalisten James Foley köpften, bestimmte Eliot Higgins den Ort der Hinrichtung und sogar die Positionen der Kameras mit Hilfe von Geo-Lokalisierungstechniken, die er sich selbst beigebracht hatte. In den Krisengebieten Syriens, wo kaum noch ausländische Journalisten sind, stellen Higgins' Karten wichtige Informationsquellen dar.

Kritik an Eliot Higgins' Arbeit kam von Richard Lloyd und Theodore Postol vom Massachusetts Institute of Technology (MIT). In einem Brief an die London Review of Books warfen die beiden Forscher ihm vor, seine angeblichen Erkenntnisse über die Saringas-Angriffe abhängig von der aktuellen Faktenlage immer wieder zu verändern. Außerdem behaupteten sie, viele von Higgins' Entdeckungen seien Derivate ihrer eigenen Forschung.

Bellingcat ist ein Vollzeitjob, das Geld trotzdem knapp

Mit zunehmendem Bekanntheitsgrad wuchs der Druck auf Eliot Higgins. Woher bekommt dieser Brown Moses seine Informationen? Nach der Streubombenenthüllung gab Higgins sein Pseudonym auf, er wurde real.

Higgins hielt analoge Vorträge, bekam ein Jobangebot. Doch der Blogger wollte unabhängig bleiben. Mit Hilfe einer Kickstarter-Kampagne finanzierte er 2014 die Gründung von Bellingcat. Mehr als 1.700 Unterstützer gaben insgesamt rund 50.000 Pfund. Das übertraf Higgins' Vorstellungen. Und doch bleibt die Zukunft der Investigativ-Plattform unsicher. Für Eliot Higgins ist Bellingcat ein Vollzeitjob, seine Mitstreiter bezahlen kann er jedoch nicht.

Mittlerweile hat Higgins seinen Arbeitsplatz verlegt. Vom Sofa in ein kleines, anonymes Büro. Ein beinahe leerer Raum, ein Schreibtisch, ein paar Stühle. Und ein Laptop.

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