Tanztheater:Liebe und Hiebe

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Antonio Andrade hat das Tanzstück "Mi Carmen Flamenca" überarbeitet. Ab Mittwoch gastiert die "Compañía Flamenca" mit dem klassischen Stoff im Deutschen Theater

Von Michael Zirnstein

Hochkonzentriert stehen sich die Rivalen gegenüber, fixieren sich mit Raubtieraugen, die Brust geschwollen, das rhythmische Klacken ihrer hohen Hacken klingt bedrohlich. Die sie umringenden Frauen feuern die Duellanten an. Natürlich geht es um eine Frau, die Zigarrendreherin Carmen, der hier der Heißsporn José und sein vorgesetzter Leutnant Zuniga verfallen sind (auch der Torero Escamillo ist schwer interessiert). Immer wieder entlädt sich die Spannung, wenn die beiden Haudegen ineinander laufen und ihre Holzstöcke aneinanderkrachen lassen. Plötzlich halten alle inne: Mit einem lauten Knacken zersplittert ein Stecken. So stand das nicht in den Regieanweisungen. Die ganze Kompanie schnauft durch, einige lachen, auch erleichtert, weil nichts weiter passiert ist, ein Tänzer reicht schnell einen Ersatzstock, und weiter geht es mit dem Gefecht.

Es ist kein ernster Streit, sondern eine Probe für das Stück "Mi Carmen Flamenca" in einem Studio der Flamenco-Schule von Malaga. Der Vorfall zeigt aber sehr schön, wir ernst alle Beteiligten bei der Sache sind. Wenn Flamenco-Tänzer - noch dazu andalusische - hinlangen, dann nicht mit laschem Händedruck, sondern mit vollem Herzen und ganzer Kraft. "Das ist der größte Unterschied zu klassischen Carmen-Opern: Unsere Künstler sind Andalusier", sagt Antonio Andrade, der musikalische Leiter des Stückes, "wir haben eben Feuer, so klischeehaft das auch klingt: Aber hier in der Gegend gibt es die meisten offiziellen Feste, und wer einmal so eine Feria samt Gefühlsexplosionen, Taumel und Trance erlebt hat, weiß, dass das stimmt".

Auf der Suche nach wahrer Leidenschaft war auch der Franzose Prosper Merimeé nach Andalusien gereist. Die Figuren und Geschichten, die er aufschnappte, flossen 1835 in seine tragische Novelle "Carmen" ein. Aus der spann sein Landsmann George Bizet 1875 die berühmte Oper - ohne jemals in Spanien gewesen zu sein, aber doch mit für die damalige Zeit außergewöhnlich milieunahen Szenen. Noch zu krass und derb für das Premierenpublikum, prägte die Carmen-Oper über die Jahre doch die rüschenkitschige, folklorebunte Außensicht von Andalusien - und der dort vorherrschenden Kunstform Flamenco.

Nicht, dass Antonio Andrade mit seiner "Compañía Flamenca" auf prächtige Gewänder und Kastagnetten verzichten würde, aber er sieht sich schon als Künstler, der "Carmen" für seine Kultur zurückerobern möchte. Nachdem Carlos Saura mit seinem Carmen-Film (und der Musik von Paco de Lucia) 1983 ein weltweites Flamenco-Fieber ausgelöst hatte, entwickelte der Choreograf Manolo Marín "Mi Carmen Flamenca" als modernes Tanztheater für die Deutsche Oper in Berlin: "Flamenco bedeutet für mich nicht nur Tragödie, sondern auch Witz und Ausgelassenheit." Lange mit der Produktion verbunden, überarbeitet Andrade das Stück 2013 für eine China-Tournee komplett. "Ich denke an ein Publikum, das den Flamenco versteht und eines, das ihn noch nicht versteht", sagt der Gitarrist. Es kommen alle Disziplinen klassischer Flamenco-Darbietungen in den Tablaos Andalusien vor: der Gesang, "der weh tun muss", als "Keimzelle" von allem; der Tanz, auch mit Manton (Tuch), Stöcken, Kastagnetten; und die Musik. Andrade setzt allerdings auch Jazz-Instrumente wie Saxofon und Querflöte ein. "In Francos Diktatur hatten wir keinen Zugang zu Jazz, Klassik oder Weltmusik - heute ist das der ganz natürliche Weg, wir hören gar nicht mehr auf die Puristen," erklärt Andrade.

Er ist der ideale Vermittler: Seine Familie stammt zwar aus dem flamencosüchtigen Dorf Cazalla bei Sevilla, doch aufgewachsen ist Andrade in Ludwigsburg, wo sein Vater als Feldarbeiter Geld verdiente. Dort entwickelte sich der "Spätzle-Torero", wie Freunde ihn nannten, zum Meister an der Flamenco-Gitarre, was ihm weltweit Engagements, unter anderem bei André Heller, einbrachte. Am Bodensee lernte er auch seine Frau kennen, die in Schaffhausen eine Flamenco-Schule leitete: Die Spanierin Úrsula Moreno verkörpert in dem 17-köpfigen Ensemble seit Jahren die Hauptfigur in "Mi Carmen Flamenca".

Als sie zum ersten Mal davon hörte, dass sie die andalusische Volksheldin spielen dürfe, begann sie, die Rolle zu studieren. "Ich habe mir aber keine der Tausenden Inszenierungen angesehen, ich habe Mérimées Buch gelesen", sagt sie. "Und ich habe eine ganz andere Carmen gesehen, als sie normalerweise gezeigt wird." Carmen gilt als leichtes Mädchen aus dem Viertel der Gitanes, der Zigeuner - aber warum sie wie die anderen 6000 Zigarrendreherinnen knapp bekleidet war, versteht jeder, der bei 45 Grad schwitzend die alte Fabrik in Sevilla besucht. "Man hat sie auch zur Diebin gemacht", setzt Úrsula Moreno die Ehrenrettung fort, "aber als Frau der ärmsten Schicht hat sie einfach versucht, zu überleben, egal auf wessen Kosten". Der richtige Mann - ein Soldat wie Don José oder Escamillo, als Stierkämpfer Popstar seiner Zeit, verhieß den sozialen Aufstieg. "In der Novelle wurde die Liebe romantisiert", sagt Moreno, "aber romantische Liebe war ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnte. Ich glaube, sie hat keinen von beiden geliebt." Das Wissen von heute hätte manchem Mann Stockschläge erspart.

Mi Carmen Flamenca , Mi.-Sa., 17.-20. Juni, 20 Uhr, Deutsches Theater, Schwanthalerstr. 8, 21 83 73 00

© SZ vom 16.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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