Stilkritik zum Morgenmantel:Selbstversuch in Seide

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Wenn nur die Schleife nicht ständig aufgehen würde: der Autor in seinem Leihmantel von Tom Ford.

(Foto: Jakob Berr)

Der Morgenrock ist ein herrlicher Anachronismus - als handgefertigtes Einzelstück jedoch eine echte Herausforderung.

Von Marc Felix Serrao

Die wichtigste Regel: auf keinen Fall das Haus verlassen. Ganz gleich, wie man sich die Situation ausmalt. Kurz Semmeln holen, ein paar amüsierte Blicke kassieren und dann ganz locker zurück nach Hause schlendern: So war's in diesem Fall gedacht. Doch schon auf den 50 Metern zum Bäcker kommt es zur ersten unangenehmen Begegnung. Zwei kräftige Joggerinnen mittleren Alters laufen langsam und laut plaudernd die Straße runter. In zehn Metern Entfernung hören sie auf zu reden. Dann starren sie. Kaum vorbeigetrabt, geht das Gewieher los.

Dass der Anlass der Heiterkeit ein handgefertigtes Kleidungsstück im Wert eines halben Kleinwagens ist und sie selbst in ihren bunten Funktionsleibchen aussehen wie sprechende Silvesterböller: egal. Von den Blicken beim Bäcker ganz zu schweigen. Eine Mutter nimmt sogar ihre Tochter an die Hand. Als würde es gleich nackte Tatsachen oder andere Sauereien zu sehen geben.

Morgenrock ist jetzt Herrenmode

Ein paar Tage zuvor. Feierlich übergibt der junge Kollege, der sich wie kein zweiter in der Redaktion mit zeitgemäßer Kleidung auskennt, ein Päckchen Stoff. Was aussieht wie eine Requisite aus einem Bond-Film der Siebziger, erklärt er, sei in Wahrheit Teil der aktuellen Herrenmode: ein Morgenrock aus Seide. Vor knapp vier Saisons habe Tom Ford erstmals hochpreisige Exemplare gezeigt. Seither hätten auch Prada und Louis Vuitton ihre Models in Hausmänteln auf den Laufsteg geschickt, inspiriert von Originalen der Zwanzigerjahre. Kein Zweifel also, die Teile seien wieder da.

Und weil Bezahlbarkeit und Dekadenz nicht zusammenpassen, funktioniere ein Selbstversuch nur mit einem Original. Keine Stangenware, sondern ein handgefertigtes Einzelstück von Tom Ford für 5000 Euro, bereitgestellt für eine Woche. Spaghetti Bolognese und alles andere, was Spaß und Flecken macht, seien darin selbstredend tabu.

Am Abend die erste Anprobe. Und gleich das erste Problem. Was passt drunter? Das T-Shirt vom Sportklub? Das Unterhemd in Feinripp, gekauft im Dreierpack an der Kaufhauskasse? Schwierig. Die Jogginghose fühlt sich auch verkehrt an. Also das Mäntelchen pur. Der Stoff schmiegt sich sehr angenehm und federleicht um den nackten Körper.

Wie trägt man so ein Ding mit Würde?

Warum, fragt man sich, nachdem man einige Runden allein durch die Wohnung gegockelt ist, haben Männer je aufgehört, diese herrlichen Dinger zu tragen? Liegt es daran, dass unsere Arbeitswelt immer formloser und ein häuslicher Ausgleich mithin überflüssig geworden ist? Oder scheuen wir einfach den Hugh-Hefner-Vergleich? Spontan fällt einem neben dem flatterhaften 89-jährigen Playboy-Erfinder kein anderer lebender Morgenrockfreund mehr ein.

Der letzte passionierte Träger, dessen Bilder nicht peinlich berühren, von literarischen Helden wie Sherlock Holmes abgesehen, war Winston Churchill. Es gibt ein Bild des großen britischen Premiers, aufgenommen Weihnachten 1943 in Tunesien, da trägt er - krankheitsbedingt - öffentlich einen Morgenrock, den feuerspuckende Drachen zieren. Das Foto ist vor allem deshalb zauberhaft, weil Churchill direkt neben dem uniformierten General Dwight D. Eisenhower steht und keinen Deut weniger souverän wirkt. Sprezzatura nennt der Italiener diese mühelose Form von Autorität. Der Testträger in München ist davon sehr weit entfernt.

Exhibitionist im eigenen Wohnzimmer

Das liegt vor allem an einem Detail: der Kordel, die verhindern soll, dass sich der seidige Vorhang vorne am Bauch unerwartet auftut. Sie ist viel zu dick und unflexibel, außerdem fehlen am Mantel Ösen. Vielleicht haben die Tom-Ford-Leute ja gedacht, dass Menschen, die so viel Geld für ein Kleidungsstück ausgeben, permanent von Personal umgeben sind, das im Notfall sofort ein neues Schleifchen bindet. Der Autor jedenfalls steht am laufenden Band wie ein Exhibitionist im eigenen Wohnzimmer, vermutlich sehr zur Erheiterung der direkt gegenüber arbeitenden Kostümbildnerinnen des Volkstheaters.

Das eigentliche Problem aber wird erst nach ein paar Tagen deutlich. Es ist der Anblick, der sich dem Träger selbst darbietet. In den eigenen vier Wänden. Er sieht: eine Ikea-Küche. Ein graues, praktisch gemeintes Sofa. Bilderrahmen aus Plastik. Eine nackte Glühbirne im Flur. Ein Deo im Badezimmerschränkchen, Hausmarke Rossmann. All diese braven Zutaten des Alltags brüllen dem Morgenrockträger ihre mittelklassige Wurstigkeit mit zunehmender Lautstärke entgegen. Der Zauber, stellt sich heraus, liegt nicht darin, dass der Mantel seinen Träger veredelt. Vielmehr verwandelt er dessen Zuhause in ein Reich des Banalen. Denn was ist die Distinktionsfähigkeit des gemeinen Stadtmenschen von heute mehr als die Möglichkeit, das Leben inmitten von Dingen zu verbringen, die sich von der darunterliegenden Gehaltsklasse durch einen leicht erhöhten Preis und etwas schönere Formen absetzen? Im Kern aber bleibt alles im Wortsinne billig. Massenware. Austauschbar und einfallslos.

Und erst die Wohnung. Kann man auf 55 Quadratmetern mit niedrigen Decken so tun als sei man ein Lebemann? Vielleicht, denkt man am letzten Abend mit Tom Ford, hilft ein Schluck Wein. Nur was für einer? Der angebrochene Sechs-Euro-Rioja wirkt nach dieser Woche wie Plörre aus dem Tetrapack. Also Mantel aus und noch mal aus dem Haus. Etwas später ist ein Brunello di Montalcino entkorkt. Schon besser. Leider ist das Glas von Ikea. Und so trinkt man, vorgebeugt, um bloß nicht aufs Revers zu tropfen, aus der Industrietulpe. Weniger Glamour geht nicht, denkt man. Bis die Schleife am Bauch wieder aufgeht.

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