Odenwaldschule:"Übergriff um elf, geht dann bis um zwölf"

Odenwaldschule berät über Zukunft

Trotz allem, was passiert ist, gibt es Ehemalige, die der idyllisch gelegenen Odenwaldschule bis heute treu verbunden sind.

(Foto: Boris Roessler/dpa)

Die Odenwaldschule verströmte den Geist der Freiheit. Nun ist sie pleite. Sexuelle Gewalt gegen Schüler hat gute Ansätze der Reformpädagogik beschädigt.

Von Tanjev Schultz

Paul Geheeb würde heutzutage als Hippie durchgehen, vielleicht auch als Hipster. Er trug einen beeindruckenden Rauschebart, war etwas exzentrisch und ziemlich überzeugt von sich und seiner Mission. "Wir stehen am Beginn eines großen Werkes", verkündete der Reformpädagoge, als er die Odenwaldschule eröffnete. Das war vor 105 Jahren. Lange Zeit sah es dann so aus, als seien Geheebs Worte eine gute Prognose gewesen und nicht nur eine großmäulige Beschwörung. Die Odenwaldschule galt als Wunderanstalt des deutschen Schulwesens. Umso tiefer ist ihr Fall.

Das Internat hat einen Insolvenzantrag gestellt. In wenigen Tagen werden die letzten verbliebenen Schüler gehen, und wenn es in den Sommerferien nicht noch eine scharfe Wendung gibt, kann diese Privatschule ihre Pforten nicht mehr öffnen. So unglücklich einige darüber sind, so sehr wäre das Ende für andere ein Grund zum Aufatmen. Denn der Schule fehlt nicht nur Geld. Sie ist moralisch bankrott.

Als vor fünf Jahren das Vertuschen und Verschweigen einer entsetzlichen Wahrheit wich und die lange Geschichte sexueller Übergriffe ans Licht kam, begann ein unwürdiger Kampf ums Überleben der Institution. Ständiger Streit, Intrigen und Zerwürfnisse haben jeden Versuch, neu anzufangen, hintertrieben. Die Verantwortlichen wechselten häufig, eines aber blieb: die Lähmung der Gremien, in denen viel und unerbittlich diskutiert und doch nur wenig bewegt und geklärt wurde.

Schon Gründer Paul Geheeb verletzte die Grenzen seiner Zöglinge

Im pädagogischen Predigerton hatte Geheeb von ewigen Werten geschwärmt, denen ein Bund gleich gestimmter Menschen diene. Von einer Lebensgemeinschaft, in der sich "der eine von der Liebe des anderen getragen fühlt". Die Wirklichkeit sieht anders aus. Wie jüngere Forschung zeigt, verletzte offenbar schon Geheeb die Grenzen seiner Zöglinge; schroff setze er eigene Interessen durch. Und in der Gegenwart toben im Schulverein die wildesten Kämpfe. Sumpf. Hetzer. Psychopath. Hexenjagd. Das sind die Vokabeln, die Beteiligte verwenden. Wer sich in diese Runden begibt, kommt nicht unbeschädigt heraus.

Noch mehr gelitten haben die Schüler, die an der Odenwaldschule belästigt und betatscht, genötigt und vergewaltigt wurden. In den 1970er- und 80er-Jahren, unter dem Schulleiter Gerold Becker, gehörte sexuelle Gewalt zum heimlichen Lehrplan. Als die Schule in 2010 ihr 100-jähriges Bestehen feiern wollte und die Missbrauchsgeschichte aufplatzte, kleideten Absolventen ihr Trauma in Kinderreime: "Morgens früh um sechs, gibt es erst mal Sex." Und: "Übergriff um elf, geht dann bis um zwölf."

Geheeb hatte die öffentlichen Schulen als bloße Unterrichtsanstalten kritisiert, in deren überfüllten Klassen es "zwischen Alt und Jung nur zu flüchtiger Berührung" komme. Er wollte dagegen eine echte Lebens- und Arbeitsgemeinschaft stiften. Die Schüler sollten nicht passiv dasitzen, ihm schwebte eine "Stätte freier Erziehung" vor, ohne überflüssigen Zwang. Die Vision war attraktiv. Rasch entwickelte sich die Odenwaldschule zur gefragten Adresse eines linksliberalen Milieus, das die alten Paukschulen satthatte. Das Tal von Ober-Hambach, still gelegen bei Heppenheim in Hessen, wurde zum Wallfahrtsort progressiver Pädagogen. Umgeben vom "geheimnisvollen Zauber des Waldes" ließ der Hippie Mädchen und Jungen gemeinsam unterrichten. Mon Dieu!

Auch später, in der alten Bundesrepublik, verströmte die Schule den Geist der Freiheit. Raus aus dem Muff. Dem Internat gelang das Kunststück, dass man ihm sogar das Etikett einer Eliteanstalt anhing, obwohl es doch so gerne egalitär sein wollte und als konsequente Gesamtschule auf eine Differenzierung in Leistungsgruppen verzichtete. Gezielt wurden auch Schüler aus schwierigen Verhältnissen aufgenommen. Diese Barmherzigkeit führte Leuten wie Becker junge, zuwendungsbedürftige Jungen zu. Dazu kamen Kinder prominenter und wohlhabender Eltern, von denen einige sich nur selten um ihren Nachwuchs kümmerten oder ihm mit Eiseskälte begegneten. Leichte Beute für Pädokriminelle. Die Schüler schwiegen oder die Eltern glaubten ihnen nicht.

Die Schule hatte mächtige Freunde

Strafrechtlich ist den Tätern nichts passiert. Ihre Taten sind mittlerweile verjährt. In einem Untersuchungsbericht, den zwei Ermittlerinnen im Auftrag der Schule erstellt haben, ist von mindestens 132 Opfern die Rede. Der Verein "Glasbrechen" schätzt die Zahl auf 500. Sexuelle Übergriffe hat es auch an anderen Einrichtungen gegeben, doch das Ausmaß an der Odenwaldschule ist besonders erschütternd.

Forscher aus München und Rostock haben damit begonnen, diese Missbrauchsgeschichte wissenschaftlich aufzuarbeiten. Für ihre Arbeit ist es wichtig, dass auch nach der Insolvenz genügend Mittel fließen und der Zugang zum Schularchiv offen bleibt. Vielleicht werden die Wissenschaftler in ein paar Jahren mehr darüber sagen können, wie es möglich war, dass die Verbrechen so viele Jahre im Verborgenen bleiben konnten.

Die Schule hatte, so viel ist sicher, mächtige Freunde. Als Ende der 1990er-Jahre zwei ehemalige Schüler Alarm schlugen und sich an die Lehrer und an die Presse wandten, verhallten ihre Warnungen und Hilferufe. "Wie laut soll ich denn noch schreien?" - so nannte Andreas Huckele später das Buch, in dem er seine Erlebnisse auf dem Internat erzählt.

Gerold Becker blieb im Ruhestand ein von vielen hofierter Pädagoge, bis die Vergangenheit schließlich doch über ihn hereinbrach. Zu dem Zeitpunkt war er bereits sehr krank. Becker verfasste eine sehr allgemeine, vage Entschuldigung. Er starb wenige Wochen, nachdem der Missbrauchsskandal es bis in die "Tagesschau" geschafft hatte. Mit ihm geriet damals auch Beckers Lebensgefährte in den Blick, der berühmte Hartmut von Hentig. Und die Lichtgestalt der Reformpädagogik demontierte sich selbst. Er war der Odenwaldschule eng verbunden gewesen, seinen Freund Becker hat er bis zuletzt gestützt und verteidigt. Hentig redete gern über den "pädagogischen Eros": Wenige Tage, bevor alles aufplatzte, sprach er in einem Vortrag über die Liebe der Erzieher und beklagte, dass die Gesellschaft misstrauisch auf jede Zärtlichkeit blicke. Später brachte er es fertig zu sagen, Becker könnte von den Schülern verführt worden sein. Eine Umdeutung der Opfer zu Tätern - der große Intellektuelle erschien nun als kümmerliche Figur.

Gerold Becker hatte sich schon 1971 in einem Buch über das Lernziel "Freude am eigenen Körper" ausgelassen: Es sei schwer, dieses Ziel zu erreichen, "wenn das kleine Kind in einer Atmosphäre der Leibfeindlichkeit aufwächst". Auf Beckers Nachhilfe hätten seine Schüler lieber verzichtet.

Freiheit mit fadem Beigeschmack

Dennoch gibt es Ehemalige, die der Odenwaldschule bis heute treu verbunden sind. Sie hätten sich dort sehr wohl und geborgen gefühlt, sagen sie. Das gilt nicht nur für Ältere, die Anfang der 1960er-Jahre oder früher die Schule besuchten. Wer unbehelligt blieb, konnte auch später noch eine gute Zeit in Ober-Hambach haben. Die Schule rettete so manchen vor einem rigiden Schulbetrieb, der andernorts herrschte. Aber die Freiheit hatte mehr als nur einen faden Beigeschmack. Hinter ihr verbarg sich eine Gewaltherrschaft, geschickt ummäntelt von liberalem Getue und reformpädagogischem Pathos.

Einige Ideale, die in der Odenwaldschule verwirklicht werden sollten, sind deshalb nicht automatisch diskreditiert. Eine Schule, die das "Leben und Lernen in der Demokratie" zur Selbstverständlichkeit macht, fordert Wolfgang Edelstein, der nicht nur Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung war, sondern nach dem Krieg auch Lehrer und Studienleiter der Odenwaldschule. Damals, so bestätigen es viele, sei die Welt auf dem Internat noch in Ordnung gewesen. Doch man kann das Leiden, das dann folgte, nicht mehr ausblenden.

Viel zu lange ist der Fortbestand der Institution wichtiger genommen worden als die Rücksicht auf die Opfer. Adrian Koerfer, Vorsitzender des Vereins Glasbrechen, sagt: Für die Opfer ist es eine Genugtuung, wenn die Odenwaldschule schließt. Er wünscht sich, dass auf dem Gelände ein Gedenk- und Bildungszentrum zum Thema sexuelle Gewalt entsteht. Anders als die Odenwaldschule könnte dies tatsächlich ein großes Werk werden.

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