Ernüchterung der EU-Enthusiasten:Wie mein Europa auseinanderdriftet

Ernüchterung der EU-Enthusiasten: Junge Demonstranten schreien vor dem griechischen Parlament in Athen zugunsten eines "Neins" zu den von der EU geforderten Austeritätspolitik.

Junge Demonstranten schreien vor dem griechischen Parlament in Athen zugunsten eines "Neins" zu den von der EU geforderten Austeritätspolitik.

(Foto: AFP)

2005 waren Erasmus-Studenten wie ich optimistisch und EU-euphorisch. Nun, mitten in der Griechenland-Krise, sind alle gleich ratlos - und bemerken plötzlich große Unterschiede.

Von Matthias Kolb, Krakau

An dem Wochenende, als die Verhandlungen zwischen Athen und den Geldgebern scheitern, verändert sich mein Blick auf Europa. Ich war nach Krakau gereist zum jährlichen Treffen mit den Freunden, die ich im Erasmus-Studium kennengelernt habe. Immer wieder geht es um ein Thema: Griechenland.

"Jetzt ein Referendum einzuberufen, ist feige", ruft mein deutscher Kumpel beim Abendessen. Tsipras hätte genug Zeit gehabt und die Griechen seien eben nicht zu Reformen bereit. "Natürlich soll das Volk mitreden", entgegnet Maria aus Spanien. Syriza sei gewählt worden, um den Sparkurs zu beenden, sagt sie.

Weil in ihrer Heimat alle Politiker korrupt seien, fordert Maria mehr direkte Demokratie und unterstützt die Linken von Podemos. Kommt der Grexit? Gibt es neue Gespräche? Ist Merkel gescheitert? Alle reden durcheinander, doch die Frage der Polin Magda kann niemand beantworten: "Wie geht's denn nun weiter?"

Als wir uns im Jahr 2004 als Eramus-Studenten in Litauen kennenlernten, war die Antwort klar: Mit der EU konnte es nur noch nach vorne gehen - beziehungsweise in die Tiefe, also hin zu einer weiteren Integration, welche die Mitgliedsstaaten noch enger aneinander binden würden. Dass wir unser Auslandsjahr in Litauen verbrachten, also in einem Land, das bis 1991 Teil der Sowjetunion gewesen war, hat den Optimismus sicher verstärkt. Und natürlich sieht man die Welt mit Anfang oder Mitte 20 anders als mit Mitte 30.

2002 war Europa noch "in"

Heute dominiert bei vielen überzeugten Europäern zwischen 30 und 40 eine Mischung aus Ratlosigkeit, Desillusionierung und Frust. In Deutschland lässt sich diese Stimmungsänderung mit Zahlen belegen. 2002 sagten noch 62 Prozent der jungen Deutschen laut Shell-Jugendstudie, Europa sei "in". 2012 , in der aktuellen "Jugendstudie" des Bankenverbands, gab mehr als die Hälfte der Befragten an, dass sie nicht an einen Erfolg des Euro glaubten - und dass verschuldete Euro-Staaten nicht gerettet werden sollten.

Sätze wie "Ich fühle mich weniger als Deutscher/Franzose/Belgier sondern als Europäer", die meine Erasmus-Freunde gerne sagten, sind quasi verschwunden. Das liegt sicher auch daran, dass die Erinnerung an Schilling, Lira, D-Mark und Grenzkontrollen nicht mehr so präsent ist, wenn man nach 1990 geboren wurde (den Unterschied zwischen sich und ihrer neun Jahre jüngeren Schwester hat Hannah Beitzer in diesem Text beschrieben).

Aber seither hat sich so vieles verändert: Der Krieg in der Ukraine hat 2014 dem Gefühl der Sicherheit und des permanenten Friedens einen empfindlichen Dämpfer verpasst. Gleichaltrige Freunde aus Litauen und Estland erzählen mir, worüber sie mit ihren Bekannten diskutieren: Ob die Männer im Falle eines russischen Einmarsches kämpfen oder mit Frauen und Kindern flüchten sollten. Sie alle haben gute Jobs und Uni-Abschlüsse aus dem Ausland, doch ihr Leben und ihre Sorgen sind so ganz anders als meine in München.

"Ich weiß, dass es paranoid wirkt, aber ich habe Angst", sagt meine estnische Freundin - und ergänzt: "Wir wollen eigentlich ein zweites Kind, aber in diese Welt will ich gerade kein Baby setzen." Das passiert knapp zwei Flugstunden von Deutschland entfernt, wo es sich viele in ihrer Wohlstandsinsel bequem machen.

Europas Probleme: Fehlendes Mitgefühl und Unkenntnis

Schon 2008 erlebten die Freunde aus Spanien und dem Baltikum mit, wie die Immobilienblase in ihren Staaten platzte, die Arbeitslosigkeit stieg und für das Volk schmerzhafte Reformen durchgezogen wurde. Vom Alltag deutscher Uni-Absolventen ist das weit weg: Wegen eines Jobs in ein anderes Land zu ziehen, ist hier unüblich - wenn es überhaupt jemand macht, dann nicht weil man arbeitslos ist, sondern weil es der Karriere hilft.

Es folgt der Beginn des Griechen-Dramas, die Debatte über Austerität und das Gefühl, dass sich Nord- und Südeuropa konfrontativ gegenüberstehen. Die Witze über die knallharten Deutschen und die Lockerheit von Griechen oder Spaniern - sie tauchen nun auch immer wieder bei den Erasmus-Nachtreffen oder im Facebook-Chat auf. Natürlich ist nicht alles ernst gemeint. Aber man spürt: Auch wir Europa-Euphoriker sind immer wieder in den Stereotypen und Vorurteilen unserer Heimatländer gefangen.

Steuer- und Finanzthemen haben uns nicht interessiert

Dass nicht alle Staaten Exportweltmeister sein können und welche Auswirkungen es haben kann, wenn sich weniger wettbewerbsfähige Staaten wie Griechenland und Portugal zu deutschen Zins-Konditionen Geld leihen können - diese Fragen kümmerten uns damals vor mehr als zehn Jahren noch nicht. In unserer Erasmus-Zeit, der Zeit der EU-Erweiterung 2004, kreisten europapolitische Diskussionen um Integrationsmodelle oder um die Frage, wann Weißrussland oder Staaten vom Westbalkan Teil der EU werden könnten.

Es herrscht ein Gefühl der Verunsicherung an diesem Wochenende in Krakau. Der Optimismus ist ersetzt durch die Hoffnung, dass es zumindest nicht noch schlimmer wird, und durch die unangenehme Erkenntnis, dass Europa auseinanderdriftet.

Seit 2010 macht es einen großen Unterschied, ob man in Deutschland, Spanien, Polen oder Estland geboren wurde und dort lebt. Wer wird etwas erben, wer kann sich eine Wohnung kaufen und wer muss sich Sorgen machen, ob die älter werdenden Eltern im heimischen Gesundheitssystem gut versorgt werden? Klar ist: Die Lebensrealitäten sind weiter voneinander entfernt, als wir uns das 2004 in Litauen beim Biertrinken vorstellen konnten.

Im Vergleich zu Griechenland ist Gentrifizierung ein Luxusproblem

In München klagen heute viele über steigende Mieten und die Gentrifizierung, und doch ist das eher ein Luxusproblem verglichen mit knapp 30 Prozent Arbeitslosigkeit in Griechenland oder 472 Euro Durchschnittsrente in Litauen. Wenn die Zukunftssorgen ganze Familien beschäftigen, dann verändert das auch meine Freunde in den betroffenen Ländern.

Sie alle kämpfen und machen weiter, doch sie kennen viele, die resignieren. Und dass es vor allem die Deutschen und Dänen sind, die sich die Wochenend-Trips zu den Erasmus-Nachtreffen in London, Vilnius oder Kopenhagen leisten können, während manche Freunde aus Süd- oder Osteuropa fernbleiben, liegt eben auch an der Wirtschaftskraft der Länder.

Dass keiner in unserer Erasmus-Gruppe eine Prognose wagt, wie es mit dem Euro und der EU weitergehen wird, liegt nicht nur am ungewissen Ausgang des griechischen Referendums an diesem Sonntag. Zu vieles ist unklar und erscheint zu kompliziert.

In zwei Dingen sind sich aber alle einig: Es ist gut, dass wir miteinander reden und auch streiten, weil sich jeder so mit anderen Perspektiven und Erfahrungen auseinandersetzen muss. Ein solches Verständnis hilft enorm auf dem Weg zu mehr Mitgefühl. Und angesichts der mangelnden Hilfsbereitschaft der EU-Staaten in der momentanen Flüchtlingskrise, empfinden wir alle das Gleiche: Scham und Wut. So hatten - und haben - wir uns unser Europa nicht vorgestellt.

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