102. Tour de France:Auf der Wetenschap

Keiner hat den Kurs für die Startetappe so intensiv studiert wie Tony Martin. Er will endlich ins Gelbe Trikot fahren.

Von Johannes Aumüller, Utrecht

In der Nähe vom Jaarbeurs, dem Messegelände, geht's los, den Weg gerade runter, im Kreisverkehr links und danach in einer schönen Schleife durch die Innenstadt, über Straßen, die so hübsche Namen wie Weg tot de Wetenschap und Archimedeslaan tragen. Dann kommt die Streckenführung wieder bei dem Kreisverkehr an und führt auf der anderen Seite des großen Messegeländes ins Ziel.

Für 198 Fahrer beginnt mit diesem 13,8 Kilometer langen Parcours im niederländischen Utrecht am Samstag die Tour de France, und kaum einer dürfte die Strecke über Wetenschap und Archimedeslaan so genau kennen wie Tony Martin. Er hat sie sich oft im Internet angeschaut, ein Betreuer aus seinem Etixx-Team ist sie schon vor Wochen abgefahren und hat daraus ein Video erstellt. Am Dienstag, schon vor den meisten Konkurrenten, ist der 30-Jährige zum Streckenstudium selbst nach Utrecht gekommen; und am späten Abend, wenn das Verkehrsaufkommen reduziert ist und die Ampeln ausgeschaltet sind, ist er die Runde auch einmal mit dem Rad abgefahren, um ein erstes Gefühl zu bekommen. Soweit das die Einbahnstraßenregelungen zugelassen haben, natürlich.

"Der Kurs ist nicht zu verwinkelt und wird sich auch mit hohen Geschwindigkeiten noch ganz gut fahren lassen", sagt er.

Und doch weiß Tony Martin erst an diesem Freitag so richtig, woran er mit dem Rundkurs ist, denn erst dann hat die Organisation der Tour die Strecke endgültig präpariert. Dann ist klar, wo die Absperrgitter wie weit in die Straßen hineinragen, wie genau die Kurven einsehbar sind und ein paar andere Dinge, die sich wie Kleinigkeiten ausnehmen, aber für Tony Martin große Bedeutung haben. Deshalb fährt er die Strecke danach noch einmal, und wenn er am Samstagnachmittag startet, fühlt er sich in etwa so wie Sebastian Vettel beim Formel-1-Qualifying. Er weiß genau, in welcher Kurve er beschleunigen muss, wann er wie viel Watt erreichen will und wo er auch mal einen Tritt auslassen kann.

Seit dem 22. Oktober ist bekannt, dass die Tour de France 2015 mit einem 13,8 Kilometer langen Einzelzeitfahren in Utrecht beginnt. Ungefähr seit diesem 22. Oktober arbeitet Tony Martin ganz darauf hin, diese Etappe zu gewinnen und sich erstmals in seiner Karriere das Gelbe Trikot zu sichern. "Mit diesem Hintergedanken habe ich immer trainiert", sagt er.

Der gebürtige Cottbuser ist schon seit einigen Jahren einer der weltbesten Zeitfahrer. Er hat drei WM-Titel und diverse Einzelabschnitte bei großen Rundfahrten gewonnen - aber das Gelbe Trikot bei der Tour, das hatte er noch nie.

Die Weltmeisterschaft im Herbst, Olympia im nächsten Jahr - Martin hat weitere große Ziele

Dabei gehört es durchaus zu den traditionellen Aspekten der Frankreich-Rundfahrt, dass es zu Beginn ein Zeitfahren gibt und ein Spezialist dieser Disziplin die Spitze im Gesamtklassement erobern kann. Christopher Boardman oder Fabian Cancellara ist das gleich mehrfach gelungen. Tony Martin startet bei der Tour seit 2009, aber er hat bei den Auftaktetappen seitdem immer etwas Pech gehabt. In seiner Premierensaison hatte er noch nicht die Klasse wie später und erreichte Rang acht; im Folgejahr nieselte es leicht, als er an die Reihe kam, er belegte Rang zwei; 2012 fuhr er in Lüttich über eine Glasscherbe, ein Platten warf ihn zurück; und in den Jahren 2011, 2013 und 2014 kamen die Tour-Organisatoren den Zeitfahrern in die Quere und stellten eine ganz reguläre lange Etappe an den Beginn der Rundfahrt.

Die deutschen Teilnehmer der Tour 2015

Mannschaften mit deutscher Lizenz Bora-Argon 18: Emanuel Buchmann (Ravensburg), Dominik Nerz (Wangen), Andreas Schillinger (Kümmersbruck), Paul Voss (Rostock), Jan Barta (Tschechien), Sam Bennett (Irland), Zak Dempster (Australien), Bartosz Huzarski (Polen), Jose Mendes (Portugal). Giant-Alpecin: John Degenkolb (Gera), Simon Geschke (Berlin), Warren Barguil (Frankreich), Roy Curvers, Tom Dumoulin, Koen de Kort (alle Niederlande), Georg Preidler (Österreich), Ramon Sinkeldam, Albert Timmer (beide Niederlande).

Weitere deutsche Fahrer André Greipel (Lotto-Soudal/Rostock), Paul Martens (LottoNL-Jumbo/Rostock), Tony Martin (Etixx-Quick Step/Cottbus), Marcel Sieberg (Lotto-S./Castrop-Rauxel); Patrick Gretsch (Ag2r) wurde kurzfristig aus dem Kader genommen.

Doch zum Auftakt der Tour 2015 steht nun in Utrecht wieder eine Solorunde an, kein kurzer Prolog, sondern ein richtiges kleines Zeitfahren über fast 14 Kilometer. Tony Martin weiß, dass die Chancen, sich das Gelbe Trikot zu holen (und es dann vielleicht sogar ein paar Tage durch die nicht einfache erste Woche zu tragen) nie so gut standen wie dieses Mal - und womöglich auch nie mehr so gut sein werden.

Entsprechend groß sind die Erwartungen, in der Öffentlichkeit, im Team, aber auch bei Martin selbst. "Wenn ich wüsste, dass es diese Konstellation so jedes Jahr gäbe, wären der Druck und die Konzentration vielleicht nicht so groß", sagt er.

Dabei weiß er aus eigener Erfahrung bestens, wie rasch dieser Traum vorbei sein kann. Ein bisschen Nieselregen wie 2010 in Rotterdam, eine fiese Glasscherbe wie 2012 in Lüttich, ein Gegner wie der Schweizer Fabian Cancellara oder der Niederländer Tom Dumoulin, die den Weg durch Wetenschap und Archimedeslaan noch besser im Griff haben. Doch sollte es mit dem erhofften Coup zum Auftakt nichts werden, bleiben Martin bei dieser Tour immer noch ein paar Teilstücke, auf denen er einiges erreichen kann, etwa das Teamzeitfahren. Und für die Monate nach der Frankreich-Rundfahrt hat er sich ohnehin noch viel vorgenommen: Im Herbst will er seinen vierten Weltmeister-Titel einfahren, und danach möchte er sich auf die Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro konzentrieren.

Tony MARTIN GER Etixx Quick Step ist alter und neuer Deutscher Meister im Strassen Einzelzei

Tony Martin hatte schon viele Gelegenheiten, in Gelb zu fahren, aber auch oft Pech. Auf der ersten Tour-Etappe 2015 könnte er nun ans Ziel kommen.

(Foto: imago)

Die Tour de France hingegen wird er sicherlich weniger penibel und langfristig angehen als in diesem Jahr. Zum Auftakt gibt es 2016 nämlich mal wieder kein Einzelzeitfahren, sondern eine lange Etappe quer durch die Normandie.

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