Kritik:Kraft im Kleinen

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Zirkuskunst vom Atelier Lefeuvre & André im Tollwood-Theaterzelt

Von Antje Weber, München

So könnte man sich das Rentenalter eines Artisten vorstellen: Er sitzt mit einem Glas Wein vor dem Fernseher, schaut einem Jongleur zu - und schlenkert dabei selbst ein bisschen mit den leeren Armen. Trockenübung aus Mangel an Alternativen? Von wegen. Zwar sitzt der nicht mehr ganz junge Didier André tatsächlich vor einem Fernseher und wackelt engagiert mit den Armen. Doch der Artist auf dem Bildschirm ist seltsamerweise sein Alter Ego - und das Verwirrspiel mit Realität und Virtualität ein Spaß, wie ihn sich nur Menschen ausdenken können, die im Herzen Kinder geblieben sind.

Wären sie in der Realität noch sehr viel jünger, würden Didier André und Jean-Paul Lefeuvre allerdings besser in den winzigen Raum hineinpassen, den sie sich als Bühne gezimmert haben: Acht Kubikmeter nur bespielen sie in ihren 45-minütigen Solos "Chez Moi Circus" und "Ni Omnibus", die unter dem gemeinsamen Titel "8M3" noch bis 7. Juli im Tollwood-Theaterzelt zu sehen sind. Der Grund für die Beschränkung: Die Altmeister des Nouveau Cirque tourten damit zunächst in einem umgebauten Bus durch Frankreich.

Doch Platz ist in der kleinsten Hütte. Der stupende Akrobat Jean-Paul Lefeuvre nutzt ihn für Balanceakte mit Seil oder Leiter bis zum letzten Zentimeter aus. Und viel Material braucht es im schlicht schönen Nouveau Cirque ja glücklicherweise auch nicht: Ein paar Obstkisten reichen, und schon sitzt Lefeuvre als Fahrer in einem Bus, schaltet wie ein Profi mit einer Obstkiste und rast durch die Landschaft - die übrigens, ein paar kleine technische Mätzchen dürfen heutzutage ja schon sein, ebenfalls als kleiner Film eingeblendet ist.

Ein Zauberer wie Didier André braucht ohnehin wenig Raum. Rote Leuchtbälle kann man überall in einem Ohr verschwinden lassen und aus dem anderen wieder herausholen, eine leere Flasche im Handumdrehen zu einer vollen machen, einem Tuch und einem Apfel gespenstisches Eigenleben verleihen. Bis der Künstler den Apfel kurzerhand aufknurpselt und dazu mit vollem Mund ein Liedchen singt - das alles so stoisch präsentiert, so herrlich bescheuert, dass es eine Freude ist. Zwar gibt es noch eine kleine Rahmengeschichte, die von unglücklicher Liebe und Einsamkeit kündet, eine Ahnung von Nostalgie und Melancholie. Doch diesem Mann muss vor Alter und Alleinsein nicht bange sein: Er weiß sich zu beschäftigen. Und sei es vor dem Fernseher.

© SZ vom 04.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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