Leben in Griechenland:"Ich kann meine Familie nicht ernähren"

Wie geht es den Griechen? Wir haben bei einigen nachgefragt. Vassilis Bakalis, 37 Jahre, arbeitet im Byzantinischen Museum in Athen. Er wird beim Referendum für "Nein" stimmen: "Genug ist genug."

Von Mike Szymanski, Athen

Bisher hat er alle Entlassungswellen überstanden

Vassilis Bakalis geht die Treppe in den Keller runter, dorthin, wo die Geschichte repariert wird. Das ist sein Job. Geschichte reparieren.

Bakalis ist geschickt mit den Händen. Vor ihm liegt ein Hunderte Jahre altes Heiligenbild. Die Zeit hat ihre Spuren hinterlassen. Der Metallrahmen ist dunkel angelaufen. Er versucht, die Schmutzschichten vorsichtig abzutragen. Mit einem Holzstäbchen und ein bisschen Watte arbeitet er sich Millimeter für Millimeter vor.

Wer hier unten, in den Werkstätten der Konservatoren des Byzantinischen Museums in Athen arbeitet, bekommt ein anderes Verhältnis zur Geschichte. Er lernt viel über Schönheit und Verfall.

Aber Bakalis bewahrt in seinem Keller auch ein Ausstellungsstück auf, das oben im Museum nichts verloren hat. Er nennt das Kunstwerk die "Geschichtstür". Dutzende Fotos haben er und seine Mitarbeiter mit Klebestreifen auf die Tür geklebt. Sie zeigen den 37-Jährigen und seine Kollegen wie sie demonstrieren. Mal haben sie eine selbstgebaute Galeere dabei, an deren Bug ein Foto von Kanzlerin Angela Merkel klebt, die Ruderer, die Sklaven, sind die Griechen. Mal heißt es nur "Es lebe die Revolution." Und auf einem anderen Plakat steht: "Auf Wiedersehen, Frau Lina."

Frau Merkel kennt man, aber wer ist Frau Lina? Sie war mal eine Vorgesetzte. Sie wollte Bakalis und seine Kollegen rausschmeißen, weil der Staat sich nicht mehr so viele Angestellte leisten konnte und sollte. Sie musste dann vor Bakalis gehen. Das gilt auch für Kyriakos Mitsotakis, unter der konservativen Vorgängerregierung Verwaltungsreformminister. Deshalb hängt auch ein Foto von ihm an der Tür wie eine Trophäe.

Alle, die hier abgebildet sind, wollten, dass Griechenland Leute wie Bakalis einspart. 15 000 Mitarbeiter im öffentlichen Dienst sollten gehen. Bisher hat er alle Entlassungswellen überstanden. "Die Tür dokumentiert unseren Kampf", sagt er. "Wir sind immer noch hier."

Die Tochter war im Krankenhaus als die Infusionen ausgingen

Griechenland im Jahr 2015 - das heißt fünf Jahre Dauerkrise. Wer weiß, was in vielen Jahren einmal in den Museen über diese Zeit ausgestellt wird? Wird Bakalis seinen beiden Kindern, Konstantinos, 5, und Fotini, 3, irgendwann erklären müssen, warum Griechenland womöglich aus der Euro-Zone fiel? Er denkt kurz nach und sagt, vielleicht geht es dann um eine ganz andere Frage: "Warum ist die Europäische Union gescheitert?"

Griechenland hat elf Millionen Einwohner. Die Arbeitslosigkeit liegt bei mehr als 25 Prozent. Unter den Jugendlichen ist jeder zweite arbeitslos. Fast ein Drittel der Griechen hat keine Krankenversicherung mehr. 240 Milliarden Euro an Hilfszusagen hat das Land seit 2010 bekommen - und trotzdem geht es vor die Hunde.

Bakalis hat seine Frau Anna, eine Kunsthistorikerin, im Museum kennengelernt. 2008 haben sie geheiratet. Da zog die Krise schon am Himmel auf, die Weltfinanzen waren in Unordnung. Zu spüren bekam man davon in Griechenland noch nicht so viel. Vor fünf Jahren kam Konstantinos auf die Welt. Da mussten sie im Krankenhaus bei der Geburt noch nichts zahlen. Zwei Jahre später kam Fotini, die Tochter, auf die Welt. Da mussten sie schon zuzahlen. Letztes Jahr musste die Kleine ins Krankenhaus. Fieberkrämpfe. Ihr ging es richtig schlecht. Am Sonntag gingen im Krankenhaus die Infusionen aus. Am Montag durften sie gehen. "Zum Glück", sagt er. Er hat seither Angst davor, dass jemand in der Familie ernsthaft krank wird.

Es heißt immer, die Beamten, der öffentliche Dienst, seien schuld an der Misere. Bakalis sagt, er sei das Opfer. Vor der Krise habe er 1300 Euro im Monat verdient, heute seien es nur noch 860 Euro. In einem Jahr, 2012 muss es gewesen sein, sei sein Gehalt im November sogar rückwirkend bis Januar gekürzt worden. Da bekam er in der Bank nur 125 Euro ausbezahlt. "Ich habe einen Job. Ich arbeite jeden Tag. Und ich kann meine Familie nicht ernähren. Das ist Austerität", sagt Bakalis.

Die Großeltern helfen aus, bezahlen mal diese Rechnung, mal jene. Die Einkäufe. Er ist dankbar dafür.

"Wir dachten, jetzt kommen bessere Zeiten."

In Griechenland, sagt Bakalis, kann man sich auf die Familie verlassen. Da hilft man sich. Sollte die EU nicht auch eine Familie sein?" Er höre nur Vorwürfe aus Brüssel, spüre nur Druck.

Bakalis kann sich noch an seine ersten Euros erinnern, die er 2002 in den Händen hielt. "Wir waren alle sehr glücklich. Wir dachten, jetzt kommen bessere Zeiten." Aber erst einmal wurde der Kaffee teurer. "In einer Nacht hatte unser Geld viel an Wert verloren." In kaum einem anderen Land zogen die Preise schneller an als in Griechenland. Die Politiker haben uns gesagt: "Der Euro ist unsere Zukunft."

Die nächsten Jahre waren dann auch nicht schlecht. Die Olympischen Sommerspiele kamen 2004 nach Athen. Im Fußball wurden die Griechen Europameister.

Es ist schon lange her, es gab aber eine Zeit, in der man sich wie ein Sieger fühlte.

Jetzt hat Alexis Tsipras, Chef der linksgeführten Regierung, das Land in das Endspiel um den Euro geführt. Am Sonntag sollen die Bürger in einem Referendum abstimmen, ob sie mit den Sparvorgaben der Kreditgeber aus Brüssel einverstanden sind oder nicht. Bakalis wird auch gegen weitere Härten stimmen. Er ist kein Europafeind. Im Gegenteil. Er hat Europa viel zu verdanken. Das Museum, in dem er arbeitet, ist mit Geld aus Brüssel ausgebaut worden. Und die Vorschule für seinen Sohn kann er sich nur leisten weil es ein Förderprogramm der EU gibt.

Ein Leben ohne die EU? Wenn es ihm danach besser geht, warum nicht, sagt er. Tsipras verspricht, dass es Leuten wie ihm besser gehen wird. Und er glaubt Tsipras. "Er hört auf uns." Außerdem gibt er uns unseren Stolz zurück. "Genug ist genug!", sagt Bakalis.

Bakalis geht die Treppe wieder hoch zu den Ausstellungsräumen. Er hat noch ein bisschen in der Vergangenheit zu tun.

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