Russland und Nato:Besonnenheit gefragt

Der Westen muss auf Moskaus Politik entschieden reagieren. Aber er sollte dabei Augenmaß wahren und nicht provozieren.

Von Joachim Käppner

Vor Kurzem hat Russlands Präsident Wladimir Putin eine Art Militär-Fantasialand bei Moskau eröffnet, wo Kinder und Jugendliche alle Arten von Schießgerät ausprobieren dürfen. Putin pries dieses Freizeitvergnügen als Teil einer wehrhaft-patriotischen Erziehung. Nicht nur die Interessen Russlands und Europas unterscheiden sich immer mehr, sondern auch die politischen Mentalitäten der Gesellschaften. Im Westen sieht man Russlands graduellen Rückfall in die Denkmuster des Nationalismus ebenso verständnislos wie besorgt.

Ausdruck dieser Sorge ist die neue Verteidigungsstrategie der Nato, die so etwas ist wie eine Light-Version der alten: Abschreckung nach Osten, Schutz der Mitglieder. Verglichen mit der russischen Rüstung, die sogar mit neuen Atomwaffen plant, sind diese Bemühungen bescheiden; zu bescheiden für die neuen Mitgliedsstaaten aus dem ehemals sowjetischen Zwangsimperium. Vor allem Polen und die besonders exponierten baltischen Staaten hätten am liebsten dauerhaft stationierte Truppen des Bündnisses an ihren Grenzen. In den USA mehren sich Stimmen, die dasselbe fordern, die Nato hat in den neuen Mitgliedsstaaten Regionalhauptquartiere eröffnet; schweres Gerät wird außerdem dort gelagert. Soeben verkündete Generalsekretär Jens Stoltenberg beim Besuch in Bukarest, der Aufbau der Hauptquartiere verlaufe bestens.

Allerdings wäre es gut, wenn der Westen, speziell die Nato, gegenüber Russland zwar fest und glaubwürdig aufträten, aber niemals provozierend oder aggressiv. Längst ist eine neue Eiszeit heraufgezogen zwischen Ost und West; damit nicht der viel beschworene "Neue Kalte Krieg" daraus wird, ist nun vor allem eines nötig: Besonnenheit.

Falsche Lehren aus der Geschichte helfen für heutige Konflikte nicht

Dazu gehört zuerst, sich an das Nato-Russland-Abkommen von 1997 zu halten, das eine feste Stationierung von Nato-Truppen in den Beitrittsstaaten untersagt. Damit sollte das nachsozialistische Moskau beruhigt und mit der Nato-Osterweiterung versöhnt werden. Diese hat dennoch jene Einkreisungsängste ausgelöst, die irrational und teils inszeniert sein mögen, aber nicht einfach ignoriert werden können. Zum Wesen des Kalten Krieges gehörte es, dass die freie und die sozialistische Welt sich jederzeit die übelsten Absichten zu unterstellen bereit waren. Bei der Führungsmacht in Washington scheint die Neigung zu sinken, Russlands Motive verstehen zu wollen, umgekehrt ist sie ohnehin geringer denn je. Verstehen bedeutet zwar nicht akzeptieren; aber es würde helfen, die Gegensätze zu überwinden, so mühsam das ist. Es würde im Gegenzug auch Russland helfen, die Ängste der Osteuropäer zu begreifen, statt sie mit Aggression zu verwechseln. Nur aus dem Bemühen um Verständnis für den anderen erwuchs in den Sechzigern die Entspannungspolitik.

Damals haben konservative Gegner der Ostpolitik Willy Brandts "Appeasement" vorgeworfen, gleich jener fatalen Beschwichtigungspolitik der Westmächte, die in den Dreißigerjahren den Aufstieg Hitler-Deutschlands zu Europas Nemesis ermöglichte. Auf Hitlers Erzfeind Winston Churchill, den weitsichtigen Gegner der Appeaser, berufen sich, offen oder im Subtext, auch jene, welche Europas Regierungen angesichts der Annexion der Krim und des Ukraine-Krieges ein "neues Appeasement" vorwerfen, wie etwa Großbritanniens Premier und diverse deutsche Geistesgrößen. Solche Vergleiche helfen nicht das Geringste, die heutigen Spannungen zu begreifen. Nichts ist unseliger als falsche Lehren aus der Geschichte. 1935 bis 1939 ging es darum, einer aggressiven Macht in den Arm zu fallen. Heute geht es darum, eine solche Situation wachsender Konfrontation gar nicht erst entstehen zu lassen. Und möglich ist das nur durch Augenmaß.

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