Referendum in Griechenland:Warten auf den Meister des "Nein"

Referendum in Griechenland: Griechenlands Premier Alexis Tsipras winkt seinen Anhängern zu, als er das Wahllokal in seinem Heimatbezirk Kypseli verlässt.

Griechenlands Premier Alexis Tsipras winkt seinen Anhängern zu, als er das Wahllokal in seinem Heimatbezirk Kypseli verlässt.

(Foto: AFP)

Die Griechen entscheiden über die Sparvorgaben der Gläubiger. Premier Tsipras wird gefeiert, weil er die "Würde" des Landes verteidigen will. Beim "Ja"-Lager dominiert die Angst.

Reportage von Matthias Kolb, Athen

Das rot-weiße Absperrband, das die Kameraleute und Fotografen zurückhalten soll, hält nur wenige Sekunden. In einer schwarzen Skoda-Limousine fährt Alexis Tsipras zu seinem Wahllokal in der Chiliandariou-Straße. Er muss sich mühsam durch das Gedränge kämpfen. Der junge Premier trägt ein weißes Hemd, er lächelt und wird mit lauten "Ochi, Ochi"-Gesängen begrüßt. Hier im Athener Stadtteil Kypseli wohnen viele Tsipras-Fans. Sie werden an diesem Schicksalstag mit "Nein" votieren.

Sie sagen "Nein" zu den Sparvorgaben der internationalen Geldgeber und wollen zeigen, dass es nach fünf Jahren der Krise so nicht weitergehen kann. "Man kann den Willen einer Regierung ignorieren, aber nicht den Willen eines Volkes", sagt Tsipras, als er in der Schule seine Stimme abgibt. In seinen Augen ist der 5. Juli ein Sieg der Demokratie: "Mit einem 'Nein' können wir zeigen, dass wir Griechen in Würde in Europa bleiben wollen."

Würde. Dieses Wort ist oft zu hören in den Straßen von Athen und auch Georgos Amarandos begründet sein "Nein" mit diesem Argument: "Es geht um unsere Würde und um unsere Ehre. Materielle Dinge sind nicht alles im Leben", sagt der 59-Jährige, der jahrelang in Köln gearbeitet hat. Er weiß zwar, dass der "Stolz der Griechen" sein Land in den Untergang führen könnte, aber die ständigen Kürzungen müssten aufhören, gerade damit die Jugend wieder Chancen bekommt. Wie so viele Athener wagt Amarandos keine Prognose: "Ich glaube, dass es sehr, sehr knapp werden wird."

Fünf Gehminuten vom Wahllokal ist das gewohnte und traurige Bild zu sehen: Etwa 30 Leute stehen Schlange vor dem Bankautomaten, um die täglichen 60 Euro abzuheben. Auch hier wird diskutiert, die Unsicherheit vor dem morgigen Tag ist allgegenwärtig und sorgt für heftige Emotionen. "Ich stimme gegen Deutschland, England, Frankreich, gegen all die dreckigen Schweine", ruft ein älterer Herr auf Deutsch.

Katarina Karantonis bleibt gefasster, als sie ihre Entscheidung erläutert: Sie hat mit "Nein" gestimmt, doch dies sei nicht gegen Deutschland gerichtet. Die Bürger in Europa dürften sich nicht gegeneinander aufbringen lassen, sondern müssten zusammenstehen und solidarisch sein.

Die Soziologin hat 2012 ihren Job wegen der Kürzungen verloren, doch sie sorgt sich vor allem um Europas Jugend. Sie fürchtet: "Wir müssen diese Sparpolitik ablehnen, sonst werden andere Länder zu den gleichen Maßnahmen gezwungen." Es seien die kleinen Leute, die am stärksten leiden würden.

"Tsipras ist einer von uns und er sagt die Wahrheit"

Viele dieser kleinen Leute leben in Kypseli. Bis heute wohnt auch Alexis Tsipras in diesem dicht besiedelten Stadtviertel im Norden Athens. Seine Straße trägt den sprechenden Namen Harmonie. Viel Harmonie gibt es nicht mehr zwischen der Athener Linksregierung, die so kurzfristig ein Referendum angesetzt hat, und den anderen Staaten der Eurozone.

Doch für die Menschen im Viertel Kypseli gilt Tsipras als Held, weil er sich in ihren Augen für die Anliegen des Volkes einsetzt und nicht abgehoben wirkt. "Er gibt uns Hoffnung, dank ihm sind wir optimistisch", sagt eine Frau. Sie glaubt fest an einen Sieg des "Ochi"-Lagers und sie will Tsipras weiter unterstützen, selbst wenn seine Regierung nach einem "Ja" zurücktreten müsste.

Ähnliche Argumente sind vor dem Wahllokal oft zu hören, wo die meisten Bürger einen "Ochi"-Sticker tragen: Tsipras kämpfe für mehr Gerechtigkeit und gegen die Armut - und er gebe den Griechen ihre Würde zurück. Während sich der Premier wieder zurück ins Auto kämpft, skandieren viele Bürger ein Lied, dessen Text in etwa so lautet: "Niemand kann von 400 Euro Gehalt im Monat leben. Das Volk gibt nun die Antwort und die Antwort lautet: 'Nein'."

Die "Ja"-Wähler fürchten die Ungewissheit

Doch auch in Kypseli gibt es Bürger, die mit "Ja" votiert haben und Tsipras für einen Lügner und Populisten halten. "Ich habe dreißig Jahre bei der Nationalbank gearbeitet und niemals waren Banken geschlossen", sagt die Rentnerin Anastasia Karveli. Die Vorgänger-Regierungen hätten Fehler gemacht und Renten gekürzt, aber niemand habe sich sorgen müssen, dass die Pensionen nicht mehr ausgezahlt würden. Genau diese Angst treibt die Frau mit der großen Sonnenbrille um.

Sie ist überzeugt, dass Griechenland Teil Europas bleiben und den Euro behalten müsse - und Tsipras setze dies leichtfertig aufs Spiel. Karveli glaubt nicht, dass die momentane Polarisierung und Spaltung der griechischen Gesellschaft anhalten werde. "Die letzten fünf Monate waren sehr anstrengend. In einer Woche wird alles wieder normal sein, denn alle Leute sind viel zu erschöpft, um sich weiterhin zu streiten."

Dass es in vielen Familien unterschiedliche Meinungen gibt, wird auch am Wahlsonntag deutlich. In Kolonaki, einem wohlhabenden Teil Athens mit vielen Anwaltskanzleien und Botschaften, wird unter anderem in der Maraslio-Schule abgestimmt. Ein Mann mit Lacoste-Hemd ist mit seiner Tochter gekommen, die ihren Hund auf dem Arm trägt.

"Ich habe mein Kreuz bei 'Nein' gemacht, denn ich unterstütze die Syriza-Regierung. Zum ersten Mal sagen griechische Politiker die Wahrheit", erklärt die Studentin. Ihr Vater teilt dieses Urteil über Tsipras - und hat trotzdem mit "Ja" gestimmt. Er sagt: "Der Premier versucht das Richtige und will die Schuldenlast senken. Aber die Unsicherheit ist zu groß, wir müssen den Euro behalten."

Während die Wähler in Kypseli fast nur "Ochi"-Aufkleber tragen, dominieren in Kolonaki "NAI"-Sticker. Eine 80-jährige Dame hat sich für "Ja" entschieden, weil Griechenland nur in der EU Fortschritte machen könne. Ihr Mann leugnet die Fehler der vielen Athener Regierungen nicht, doch er betont, dass ausländische Staaten und Banken den Griechen billige Kredite gegeben hätten, ohne nach Sicherheiten zu fragen. Die Schuld könne nicht nur einer Seite zugeschoben werden.

Eleni Kaliga kommen fast die Tränen, als sie über das Referendum spricht. "Wir Griechen sind gute Leute, wir haben nur die schlechtesten Politiker überhaupt", sagt sie auf Deutsch. Dies müsse der Rest Europas wissen. Hellas brauche die Hilfe Europas, ergänzt sie und fährt auf Englisch fort: "We pray to stay." Sie und ihre Familie bete dafür, dass das "Ja"-Lager gewinnt. Erste Hochrechnungen werden für etwa 20 Uhr deutscher Zeit erwartet. Bis dahin wird gezittert - auf beiden Seiten.

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