Euphorie und Verzweiflung:"Wir haben uns unser Land zurückgeholt"

Viele Griechen feiern die Alles-Oder-Nichts-Strategie ihrer Regierung als Erfolg, andere sind in großer Sorge.

Von Mike Szymanski

Alexis Tsipras schickt seinen Gesundheitsminister Panagiotis Kouroumplis vor. In gewisser Weise fällt dieses Ergebnis ja auch in seine Zuständigkeit. Kouroumplis sagt: "Ich glaube nicht, dass die Demokratie heute Abend gestorben ist." Vor anderthalb Stunden haben die Wahllokale in Griechenland geschlossen, nun steht hier ein überraschender Befund: Nach ersten Ergebnissen scheint gewiss zu sein, dass sich eine klare Mehrheit der Griechen gegen ein neues Sparprogramm der EU wendet. Ministerpräsident Tsipras sitzt drinnen in seinem Regierungssitz, und jetzt geht die Arbeit erst richtig für ihn los. Mit ihm wollte in Brüssel und Berlin ja schon keiner mehr verhandeln. Jetzt erklärt der Gesundheitsminister, das Votum der Bürger habe Tsipras viel Macht und Verantwortung gegeben.

Jetzt wird es hektisch hier. Tür auf, Tür zu. Im Falle einer Niederlage hätte Tsipras wohl zurücktreten müssen. Jetzt muss er dafür sorgen, dass sein Land nicht untergeht. Finanzminister Yanis Varoufakis wird sich gleich mit den Bankern treffen. Tsipras und Varoufakis - sie sind wieder im Spiel. Der Syntagma-Platz nach Sonnenuntergang. Hier wird ein Befreiungsfest gefeiert, glaubt man Georges Manousakas. Er hält die Griechenland-Fahne in den Nachthimmel. "Wir haben uns unser Land zurückgeholt", sagt er. Für ihn ist das mehr als nur ein einfaches "Nein". Der Syntagma füllt sich schnell. Das war schon die vergangenen Tage so, als die Gegner der Sparprogramme hier zu Demonstrationen aufgerufen hatten. Am Freitag waren es 25 000 Nein-Sager. Auf den Plakaten, die sie mitgebracht hatten, war die Stimmung ganz gut abzulesen. "Germoney. Europa. Nein Danke" - hatte einer der Demonstranten auf ein großes Schild geschrieben. Ein anderer hielt dieses Plakat hoch: "Schäuble - fahr' zur Hölle." Die Wut ist jetzt raus. Nun wird in Athen gelacht, getanzt, Bier getrunken. Auto-Korso um Auto-Korso jagt durch die Stadt. Manousakas sagt, er sei "happy". Aber der Kampf sei noch nicht zu Ende. Er glaubt nicht, dass die Geldgeber das Votum so einfach akzeptieren werden. "Sie werden uns attackieren. Sie und die Banken." Der Euro? Vielleicht bald Geschichte, glaubt der Angestellte. Traurig ist er nicht. Er fühlt Stolz an diesem Abend. Nicht nur die Kreditgeber müssten das Votum verstehen, auch Tsipras. "Wir haben heute nicht nur Nein gesagt zu den Sparprogrammen der Vergangenheit, sondern auch zu zukünftigen."

Tsipras-Anhänger strömen nach den ersten Ergebnissen sofort auf den Parlamentsplatz

Und der Schuldenberg? "Wir haben Nein gesagt." Am Nachmittag hatte Tsipras seine Stimme in einer Athener Grundschule abgegeben, wo sonst ein anderer bewundert wird: der kleine Prinz. Ein Bild des Blondschopfs, der Hauptfigur aus der Erzählung von Antoine de Saint-Exupéry, schmückt das ansonsten trostlose Treppenhaus mit Neonröhren und blätterndem Putz. Vom Prinzen kann man viel lernen, nicht nur als Schüler. An einer Stelle sagt das Kerlchen: "Geradeaus kann man nicht sehr weit gehen." Seine Welt ist einfach zu klein.

Tsipras und die von seiner Linkspartei Syriza geführte Regierung waren fünf Monate unterwegs, bis sie hier angekommen sind: Eine Zukunft mit oder ohne Euro, hieß es vor der Abstimmung. In letzter Konsequenz womöglich eine Zukunft in der EU oder außerhalb. Darum geht es. Deshalb ist das Land so aufgewühlt, auch wenn die Ausgangsfrage des Volksentscheids bedeutend harmloser daherkam: Sind die hoch verschuldeten Griechen bereit, weitere Sparauflagen zu akzeptieren? Der Regierungschef hatte am Nachmittag in der Schule gesagt: "Das Volk wird heute nicht nur die Botschaft senden, dass es in Europa bleibt, sondern auch, dass es in Würde leben will."

Würde - das ist Tsipras' Lieblingswort. Seit Tagen schon benutzt er es.

Athen am Tag der Abstimmung. Mitten auf dem Syntagma schläft ein Obdachloser. Sein Oberkörper ist nackt. Ein anderer döst im Eingang einer Bank, die wie alle Institute im Land geschlossen ist. An die Wand hat jemand mit schwarzer Farbe "Ochi" geschmiert. Makis Tzafaris kann Deutsch, er übersetzt das Wort nicht mit "Nein", sondern macht ein "Nein, Frau Merkel" daraus.

Worum geht es so vielen Bürgern, und zwar aus beiden Lagern? Um die "Würde"

Tsipras' Referendum spaltet das Land, bis in die Familien: Maraslion ist eine der besten Schulen von Athen. Sie liegt im feinen Stadtteil Kolonaki, der auch schon bessere Zeiten erlebt hat. Ein Vater kommt am Nachmittag mit seiner Tochter aus dem Wahllokal. Sie trägt einen weißen Pudel auf dem Arm, er eine schicke Uhr am Handgelenk. Sie hat für den Kurs der Regierung gestimmt, der Vater dagegen. Europa ohne Griechenland - das kann er sich nicht vorstellen. "Alternativlos", sagt er, obwohl er auch genug von der Sparpolitik hat. Die Tochter will "kein Weiter so".

Auch für die Tsipras-Gegner geht es um Würde. Dimitra Charitidou findet es würdelos, wie die politische Spitze des Landes mit den Kreditgebern umgeht. "Ich entschuldige mich für diese Regierung", sagt sie. Natürlich müssen wir unsere Schulden zurückbezahlen. Im Moment sei "niemand happy", jeder leide, aber sie "liebe die EU".

Schon lange wurde in diesem Land nicht mehr so heftig über Politik diskutiert wie in diesen Tagen. Die konservative griechische Zeitung Kathimerini sorgt sich um den nationalen Zusammenhalt: "Wie auch immer die Wahl ausgeht, wir müssen auch am Montag alle im selben Land leben. Lasst uns das nicht vergessen", heißt es in einem Kommentar am Wochenende. Der konservative Politiker und frühere Parlamentspräsident Vangelis Meimarkis sagte: "Ich glaube, die Regierung hat die Botschaft verstanden, dass die Zeit für Spieltheorie und Glücksspiel vorbei ist." Wer sich in den vergangenen Wochen in Athen umgehört hat, bekam immer wieder zu hören, der Streit mit den Geldgebern sei eine ganz große Zockerei, bei der es um Milliarden und nicht mehr um die Menschen gehe. Aber diese Zockerei hier ist selbst richtigen Profis zu heiß. Aris, 64 Jahre alt, dürfte davon etwas verstehen. Er steht an diesem Sonntag vor einem Wettbüro. Viele Griechen lieben es, ihr Glück herauszufordern. Im Lotto-Jackpot liegen 4,5 Millionen Euro. Die Krise, ein großes Spiel? Aris, regelmäßig Kunde hier, sagt: "Wenn, dann ist das ein Kriegsspiel." Das griechische Drama ist nicht vorbei.

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