Dachau:Glücksmomente

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Der Auftritt des Caritas-Inklusionschors vor dem Dachauer Rathaus begeistert nicht nur wegen der Gospelmusik. Vor allem durften die mehr als 700 Zuhörer erleben, wie sich die Idee einer großen Gemeinschaft entfaltet

Von Dorothea Friedrich, Dachau

Rot-weiße Baubänder sperren am Sonntagabend viele Reihen mit Bierbänken und Sesseln ab. Ein Zeichen dafür, dass viel Prominenz zum ersten Inklusionskonzert auf dem Rathausplatz erwartet wird? Die Antwort darauf ist ein klares Jein. Die Politprominenz muss sich - "Oh happy day, come together" - mit den Stehplätzen auf dem "Seitenrang" begnügen und darf auch nur einige kurze Grußworte sprechen. Denn die Sitzplätze sind für Menschen reserviert, die man sonst eher selten auf Konzerten sieht: Menschen im Rollstuhl oder mit Rollator, mit Down-Syndrom, mit Parkinson oder sonstigen Behinderungen. Mehr als 700 Zuhörer fanden sich ein.

Es ist eine bunte Mischung aus Alt und Jung, die den Platz rasch mit erwartungsvollem Stimmengewirr erfüllt. Ihre Begleiter, Eltern, Geschwister, Freunde, Betreuer in Heimen und Wohngruppen, sind sichtlich erleichtert und auch ein wenig dankbar, dass die vielen Caritas-Helfer ihnen mit großer Hilfsbereitschaft zur Seite stehen. Die Caritas hat bereits zum zweiten Mal ein Inklusionskonzert organisiert. Bereits das erste vor einem Jahr in Fürstenfeldbruck war ein großer Erfolg. In Dachau ist die Volksbank beteiligt, auch 30 ihrer Mitarbeiter haben sich für den Inklusionschor gemeldet. Ziel der Veranstalter ist es, das Wort Inklusion mit Leben zu füllen und erlebbar oder besser: hörbar zu machen. Das Ergebnis wochenlanger Vorbereitung ist ein Konzert, das es so in Dachau noch nicht gegeben hat.

150 Sängerinnen und Sänger, davon ein Drittel mit unterschiedlichsten Handicaps, haben sich intensiv auf ihren wahrhaft großen Auftritt vorbereitet. Doch noch ist von ihnen nichts zu sehen oder zu hören. Noch gilt es für die mehreren hundert Zuschauer, sich den persönlich besten Stehplatz zu reservieren. Das ist für den einen die unmittelbare Nähe zum Getränke- und Würstelstand, für den anderen der mit möglichst ungetrübter Aussicht auf das zu erwartende Bühnengeschehen vor dem Rathaus.

Begeisterte Sängerinnen und Sänger, begeisterte Zuhörer und eine Atmosphäre, die eine Werbung für die Idee der Inklusion ist. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Und weil an diesem heißen Sommer-Sonntagabend alles ein wenig anders ist als gewohnt, findet auch das barockpicknickmäßig mit Campingstühlen ausgerüstete ältere Ehepaar einen guten Platz. Und lässt sich schnell in ein Gespräch verwickeln. Es geht wie bei so vielen anderen Spontanbekanntschaften um die Situation alter Menschen und von Menschen mit Behinderung. Um die Sorge von Eltern, was aus ihren behinderten Kindern wird, wenn sie einmal nicht mehr da sind.

Aber auch um ein gutes Stück Zuversicht: "Vor fünfzig Jahren hätte meine Tochter keine Chance gehabt, so selbstständig zu leben wie heute. Jetzt ist sie in der Wohngruppe glücklich", sagt die Mutter einer Frau mit Down-Syndrom. Wie zum Beweis streichelt die Tochter liebevoll einen ihrer Mitbewohner. Da kann schon eine Art Bedauern aufkommen, dass man als sogenannter Nichtbehinderter diese Spontaneität gründlich verlernt hat. Auch wenn man weiß, dass es längst noch nicht normal ist, verschieden zu sein, um einen Kernsatz des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker abzuwandeln, der den Begriff Inklusion auf den Punkt gebracht hat.

Doch die leicht melancholischen Gedanken verfliegen schnell. Denn was sich jetzt auf und vor der Bühne abspielt, hat etwas Magisches. Oben stimmen einige Sänger "Oh happy day" an. Unten singt, summt, tanzt der Rest mit. Und plötzlich ist es normal, verschieden zu sein. Es sind einfach 150 Musikbegeisterte, die sich da gefunden haben. Als sie "Joy for joy", Beethovens modernisierte Ode an die Freude, anstimmen, hält es im Publikum niemanden mehr. So schnell kann ein Funke überspringen. Und wohl in jedem Herzen wächst während des Konzerts "a little hope".

Das Konzert des Caritas-Chors in Dachau. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Wie soll man auch widerstehen, wenn der "Gospel Train" so rasend schnell Fahrt aufnimmt? Wenn Ulrike Buchs-Quante, Initiatorin des Projekts und Chorleiterin, ins Mikro röhrt, dass Tina Turner vor Neid erblassen müsste, wäre sie unter den Zuhörern. Buchs-Quante nimmt das Wort Gospel wörtlich. Mit "gute Nachricht" kann man diesen aus dem Altenglischen abgeleiteten Begriff übersetzen. Ihre "good news": "Wenn man in einen Chor geht, muss man singen, was der Chorleiter vorschreibt. Bei uns ist das anders. Wir suchen und arrangieren Musik, Tanz und Percussion unseren Sängern entsprechend."

Die studierte Sängerin und ehemalige Dozentin am Salzburger Mozarteum und an der Münchner Hochschule für Musik weiß, wovon sie spricht. Im vergangenen Jahr hat sie in Fürstenfeldbruck erstmals ein Konzert mit Inklusionschor gegeben. Wie sie dazu kam? Da lacht Ulrike Buchs-Quante ein hinreißendes, glückliches Lachen. Sie habe eigentlich "etwas mit Hartz IV-Empfängern machen wollen", erzählt sie nach dem Konzert. Doch dann sei ihr Thilo Wimmer von der Caritas-Kontaktstelle für Menschen mit Behinderung in Fürstenfeldbruck "über den Weg gelaufen". Die Projektidee war geboren. Und ist zu einer echten Bereicherung des Musiklebens geworden.

Weil die Sängerinnen und Sänger mit Inbrunst und Überzeugung "We are the world" singen, weil sie auch kritische Töne anschlagen, wie bei einer veritablen Welturaufführung: "Die Welt wird immer kälter", rappen einige - und der wahrlich große Chor singt dazu "When Israel was in Egypt Land". Wenn wieder andere Chormitglieder Stühle zu Percussioninstrumenten umfunktionieren, fühlt man sich in einen rauchigen Jazzclub versetzt. Wenn dann noch am Rande der Bühne einige völlig versunken tanzen, ist das Bild perfekt. Ein Bild, in dem übrigens Perfektionismus sonst keine Rolle spielt. Die Choreografie interpretiert jeder nach seinen Fähigkeiten - und ist doch Teil des Ganzen. Die vielen Solisten haben keine Starallüren, sondern strahlen Glück und Selbstvertrauen mit jedem Ton aus.

Mit Dirigent und Arrangeur Roger Hefele, dem fantastischen Michael Rokoss am Saxofon und Ludwig Leininger haben sie zudem herausragende Musiker als Begleiter. Wenn Ulrike Buchs-Quante dann noch erzählt, dass es gerade mal sieben Projekttage gab, um aus 150 Menschen einen veritablen Chor zu machen, bleibt nichts als Staunen und Bewunderung, während Hände und Füße sich immer noch im gefühlten Rhythmus der Musik bewegen.

Und weil ganz am Ende des Konzerts keine Luftballons in den Himmel steigen, sondern sehr irdische Riesenbälle im Publikum hin- und herwandern, endet dieser harmonische, begeisternde Abend symbolträchtig: Inklusion braucht keine Träume, die verwehen wie Luftballons im Wind, sie braucht viele Hände, die sich die Bälle zuwerfen und die Bodenhaftung nicht verlieren. What a happy night! Das Konzert war der kulturell-gesellschaftliche Höhepunkt des Musiksommers 2015 in Dachau. Die nächste Veranstaltung ist das Barockpicknick am Freitag, 17. Juli.

© SZ vom 08.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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