Putins Russland:Das rote Gespenst ist zurück

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Was geht hinter diesen Mauern vor? Was treibt Wladimir Putin an? Wie ist seine Politik zu interpretieren? Blick auf den Kreml.

(Foto: Andrey Rudakov/Bloomberg)

In neuen Büchern hat Putins Russland die Rolle der Sowjetunion eingenommen - mit fragwürdigen Ergebnissen. Die Behauptung zum Beispiel, dass die Russen eben einen Zar wollten.

Von Manfred Hildermeier

Mit dem Kalten Krieg, der zurückgekehrt zu sein scheint, stellt sich auch die Beobachtung des Moskauer Machtzentrums wieder ein. Der Präsident des neuen Russland ist endgültig in die Fußstapfen des Generalsekretärs der KP der alten Sowjetunion geschlüpft, und weil die Medien wieder an der Kandare liegen und ihnen nicht mehr zu entnehmen ist, was wirklich vor sich geht, muss man erneut versuchen, dies aus Äußerungen, Indizien und Informationen aller Art herauszulesen. So verwundert es nicht, dass sich einer der bekanntesten "Analysten" des einstigen Roten Imperiums - nach einem Buch über den internationalen Terrorismus und seinen Memoiren - gleichsam wieder seinem langjährigen Metier zuwenden kann.

Dabei ist nicht nur der Kreml als Ort der Beobachtung derselbe geblieben, sondern laut Walter Laqueur auch die Funktion seines Bewohners im Staats- und Herrschaftsgefüge. Wenn dieses Buch eine These hat, so verbirgt sie sich in der Behauptung, dass Boris Jelzin 1999 auch einen anderen zum Ministerpräsidenten hätte ernennen können - dann hätte eben ein anderer Wladimir Putins Rolle übernommen. Und wenn dieser abtreten sollte, "dürfte die Regierungsform überdauern", denn sie scheint "den Bedürfnissen der Russen zu entsprechen". Russland bleibt Russland - es zieht einen autoritären Staat, der Ordnung herstellt, der riskanten, weil leicht chaotischen, Freiheit vor. Es braucht einen Zaren.

Manfred Hildermeier

ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Göttingen.

Von einer Diktatur im strengen Sinn mag Laqueur nicht sprechen

In diesem Sinn der Überwältigung des Neuen durch das Alte präsentiert Laqueur seine Informationen, Überlegungen, historischen Exkurse und - meist eher verborgenen - Deutungen. Der Vorstellung der neuen Kräfte, der "Oligarchen" und der "Silowiki" in Putins engster Umgebung sowie des neuen starken Mannes Putin selber, folgen bezeichnende Abschnitte über die Renaissance der "russischen Idee", die ideologischen "Wurzeln" der aktuellen Staatsdoktrin sowie deren "Geschichtsbilder" und die offiziöse "Erinnerungspolitik".

Vielleicht nicht zufällig kürzer sind die Passagen über "störende" Faktoren geraten - den Islam, das Erbe des sowjetischen Vielvölkerreichs sowie das aufrechte Fähnlein der Opposition. Als eine Art von Fazit muss die Schlussfrage natürlich lauten, Quo vadis, Russland? Eine Antwort hat auch Laqueur nicht, aber die vorangehenden dreihundert Seiten wären überflüssig gewesen, wenn er nicht eine begründete Vermutung äußern würde - dass eine Abkehr vom gegenwärtigen Regime "in naher Zukunft unwahrscheinlich" sei.

Spätestens mit dieser Bescheinigung einer gewissen Lebensfähigkeit erhebt Laqueur den "Putinismus" zu einer eigenen Herrschaftsform. Wie sie genauer zu kennzeichnen sei, lässt er im Ungewissen. Von einer Diktatur im strengen Sinn mag er nicht sprechen. Aber einen autoritären Charakter attestiert er ihr allemal, vergleichbar am ehesten mit vergangenen Regimen in Lateinamerika - dem argentinischen unter Perón oder dem chilenischen unter Pinochet.

Putin hat Russland wieder Stabilität gebracht

Mit diesen teilt der "Putinismus" seine wesentliche Leistung, die Laqueur anerkennt und mit guten Gründen als entscheidende Ursache für die Einrichtung des "Putinismus" betrachtet: Nach einer Dekade der Anarchie, des Zusammenbruchs der alten Ordnung seit der Perestrojka und schwerer Geburtswehen der neuen, begleitet von wirtschaftlichem Niedergang, einer chaotischen Privatisierung und außenpolitischem Macht- und Prestigeverlust, hat Putin Russland wieder Stabilität gebracht. Dabei half ihm der Zufall hoher Weltmarktpreise für Rohöl und Gas, die es auch erlaubten, die Verarmung weiter Teile der Bevölkerung zu bremsen - und sich deren Applaus zu sichern.

Putins Russland: Walter Laqueur, Putinismus. Wohin treibt Russland? Übersetzt von K.-D. Schmidt. Propyläen-Verlag 2015, 336 Seiten, 22 Euro.

Walter Laqueur, Putinismus. Wohin treibt Russland? Übersetzt von K.-D. Schmidt. Propyläen-Verlag 2015, 336 Seiten, 22 Euro.

Doch wie bei vielen langjährigen Präsidenten ist der Schritt vom zweifelsfrei verfassungsgemäßen Amt zur manipulierten Dauer- und Alleinherrschaft nicht weit. Laqueur sieht Putin seit seiner zweiten Wiederwahl im März 2012 auf diesem Weg. Nach innen und nach außen verschärfte sein Regime die Gangart. Die Opposition wurde - nach Vorwürfen gefälschter Stimmzettel - endgültig mundtot gemacht und die Gleichschaltung der Medien vorangetrieben. Vor allem aber entdeckte man den äußeren Feind neu. Der Erzrivale, "der Westen", angeführt von den USA, ist zurück, nicht als internationaler Klassenfeind, sondern als Repräsentant einer anderen Kultur und anderer Werte.

Am Nachweis einer solchen Renaissance von Ideen aus dem reichhaltigen Reservoir Russlands an geschichtsphilosophisch-sozialdarwinistisch aufgeladenen nationalistischen Anschauungen, ob slavophil oder eurasisch geprägt, ist Laqueur sehr gelegen. Er braucht ihn, um aus der Herrschaft Putins und seiner "Silowiki" den "Putinismus" zu machen - ein System, das nicht nur alle politisch-administrativen Machtpositionen kontrolliert, die profitabelsten ökonomischen Ressourcen verstaatlicht und die verbliebenen Oligarchen zur Loyalität gezwungen hat, sondern auch eine Ideologie propagiert, die geeignet ist, nach innen zu integrieren, potenziell Massen zu mobilisieren und eine expansive Außenpolitik zu legitimieren. Viele Informationen, die er dafür aufmerksam gesammelt hat - über verschrobene Spät-Eurasier, religiös-messianische Nationalisten und neo-panslavistische Geopolitiker aller Art - sind interessant und für viele Beobachter neu. In der Tat geben sie Anlass, über den Charakter des Regimes nachzudenken.

Fraglich bleibt nur, ob die großenteils abstrusen "Theorien" tatsächlich nennenswerten Einfluss auf die Politik des Kreml haben und man es zu deren Erklärung nicht bei der Kompensation für vermeintliche Erniedrigung, "Verlustschmerz" und dem schieren Machterhalt belassen sollte.

Suggestion von Nationalcharakteren und Kontinuitäten

Dann bräuchte man keine zum Teil sehr weiten Ausflüge in die russische Geschichte und keine Suggestion von Nationalcharakteren und Kontinuitäten, die sich ohnehin nicht belegen lassen. Dies wäre umso sinnvoller, als auch die neue, historisch "informierte" Kreml-Inspektion ihr eigentliches Ziel - mögliche (außen)politische Aktivitäten besser abschätzen zu können - nicht erreicht und nicht erreichen kann. Schon auf die entscheidende Frage, ob der Westen mit der Nato-Erweiterung nach 1991 einen Fehler gemacht habe, weiß Laqueur auch nur die Standardantwort: angesichts der Bitten der ehemaligen Ostblockländer gewiss nicht.

Putins Russland: Jürgen Roth, Verschlussakte S. Smolensk, MH 17 und Putins Krieg in der Ukraine. Econ-Verlag, 2015, 320 Seiten, 19,99 Euro.

Jürgen Roth, Verschlussakte S. Smolensk, MH 17 und Putins Krieg in der Ukraine. Econ-Verlag, 2015, 320 Seiten, 19,99 Euro.

Nur der Untertitel und ein polemisches Auftaktkapitel über "Lügen, verdrängen, täuschen" (samt der "deutschen Putin-Connection", die sich täuschen lässt), verbindet Jürgen Roths Buch mit dem von Walter Laqueur. Hauptsächlich behandelt Roth ein ganz anderes Thema: den Absturz eines polnischen Regierungsflugzeugs bei Smolensk im April 2010, dem mehr als 90 hochrangige Politiker einschließlich des Präsidenten zum Opfer fielen.

150 Seiten lang listet der "bekannte investigative Journalist" (Klappentext) rätselhafte, "unpassende" Befunde, vertuschte oder nicht verfolgte Spuren und irreführende Pseudo-Expertisen auf, um eine große Konspiration des russischen Geheimdiensts zu belegen. So wie der FSB einen abtrünnigen Ex-Agenten in London vergiftete, stecke er hinter der Katastrophe von Smolensk und habe auch beim Abschuss von MH 17 im Juli 2014 über der Ostukraine seine Finger im Spiel. Natürlich habe er dabei nicht auf eigene Faust gehandelt, sondern Putins Befehlen gehorcht.

Die Welt hat es zurück, das rote Gespenst, nun im Dienste einer neuen nationalistischen Geopolitik, aber heimtückisch, böse und aggressiv wie eh und je.

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