Israel:Verschwunden in Gaza

Der verschwundene Jude Mengistu Avraham auf einem Pferd.

Mengistu Avraham überquerte die Grenze zum verbotenen Gazastreifen.

(Foto: Ho/AFP)
  • Seit September ist der 28-jährige Avraham Mengistu im Gazastreifen verschwunden und in die Hände der Hamas geraten.
  • Der Fall verstrickt die israelische Regierung in eine politische Debatte, in der es auch um Rassismus geht.
  • Mengistus Bruder wirft der Regierung vor, sich nicht ausreichend für eine Freilassung einzusetzen, weil Mengistu ein Jude äthiopischer Herkunft ist.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Er ist weg, das ist schon fast alles, was man weiß. Verschwunden in Richtung Gazastreifen, über den Grenzzaun geklettert, schon im vorigen September, und seitdem verschollen: Avraham, genannt Avera Mengistu, ein 28 Jahre alter Jude äthiopischer Herkunft, ist in den Händen der Hamas, hieß es Ende voriger Woche aus dem israelischen Verteidigungsministerium. Seither ist das Land in großer Sorge - und verstrickt in eine politische Debatte mit vielen düsteren Facetten.

Denn die Geschichte von einer Geisel in Gaza rührt an ein Trauma, das längst noch nicht verarbeitet ist. Es erinnert an die Leidensgeschichte des jungen Soldaten Gilad Schalit, der 2006 von palästinensischen Extremisten gekidnappt und fünf Jahre lang versteckt worden war, bis er schließlich gegen 1027 palästinensische Häftlinge ausgetauscht wurde. Während seiner Gefangenschaft wurde Schalit zum verlorenen Sohn einer ganzen Nation, doch die Freilassung vieler verurteilter Mörder schmerzt und spaltet die israelische Gesellschaft bis heute. Nun könnte plötzlich eine Neuauflage dieses Dramas drohen.

Der Verschwundene hat nun einen Namen und ein Gesicht

Direkt vergleichbar freilich sind die Fälle nicht. Anders als der Soldat Schalit hat sich Avraham Mengistu nahe seiner Heimatstadt Aschkelon aus unerfindlichen Gründen freiwillig in den für Israelis streng verbotenen Gazastreifen abgesetzt. Seine Familie hat mittlerweile durchblicken lassen, dass er psychische Probleme habe. Kurz nach dem letzten Krieg habe er die Wahnidee geäußert, er müsse im Gazastreifen israelische Soldaten retten. Aber natürlich trägt Israels Regierung auch für einen kranken Zivilisten die Verantwortung. Überdies wird das Ungemach noch dadurch vergrößert, dass es offenbar noch einen zweiten, ähnlich gelagerten Fall geben könnte: Im April soll ein junger Beduine aus der Negev-Wüste die Grenze nach Gaza überquert haben und dort ebenfalls in den Fängen der Hamas gelandet sein.

Um emotionale Debatten und öffentlichen Druck zu vermeiden, hatte die Regierung von Premier Benjamin Netanjahu zunächst eine Nachrichtensperre über das Verschwinden der beiden israelischen Staatsbürger verhängt. Im Fall des Beduinen gilt sie immer noch, sodass nur sehr wenig bekannt ist. Auf Antrag israelischer Medien aber wurde die Informationsblockade im Fall Mengistu gerichtlich aufgehoben. Nun hat der Verschwundene einen Namen und ein Gesicht. Auf einem Foto seiner Facebook-Seite kann man ihn entspannt mit einem Glas Bier in der Hand sehen.

Und er hat eine Familie, die sogleich heftige Vorwürfe gegen die Regierung erhoben hat. Der Vater Haili Mengistu klagte im Fernsehsender Channel 10, die Regierungsvertreter hätten sie fast zehn Monate lang mit leeren Versprechungen hingehalten: "Sie haben uns gesagt, wir sollten nicht darüber reden, und am Ende haben sie nichts gemacht." Yalo Mengistu, der Bruder des Verschwundenen, warf den Verantwortlichen gar Rassismus vor und schlug damit eine Verbindung zu den gerade virulenten Protesten gegen die Diskriminierung äthiopischer Juden in Israel. "Ich bin mir zu einer Million Prozent sicher: Wenn er weiß wäre, dann wären wir nicht in diese Situation geraten", sagte er der Zeitung Haaretz.

Netanjahu besuchte die Familie Mengistu persönlich

Angehörige des 28-jährigen Avraham Mengistu, der seit September in Gaza verschwunden ist.

Im Sinne der Ermittlungen sollten sie stillhalten: Angehörige des 28-jährigen Avraham Mengistu, der seit September verschwunden ist.

(Foto: Tsafrir Abayov/AP)

Darin steckt einiges an Zündstoff. Höchst ungelegen kam es deshalb für Netanjahu, dass Channel 10 den Mitschnitt eines Gesprächs veröffentlichte, in dem sein Beauftragter für solche Geisel-Fragen die Familie Mengistu unter Druck setzt. "Ihr könnt den Finger nach Jerusalem richten statt zur Hamas und sagen: Ihr habt Fehler gemacht, habt ihn die Grenze überqueren lassen und habt nicht auf unsere Briefe geantwortet", sagte Lior Lotan - aber dann sei die Familie auch verantwortlich für die Konsequenzen. "Wer Avera mit der Geschichte zwischen der äthiopischen Minderheit und dem israelischen Staat verknüpft, der lässt ihn für ein weiteres Jahr in Gaza."

Lotan musste sich umgehend für diese Äußerungen entschuldigen, und schließlich machte sich sogar Netanjahu persönlich auf, um die Familie Mengistu in Aschkelon zu besuchen. "Wir tun alles, was wir können, um ihn nach Israel zurückzubringen", versprach er. "Wir geben nicht auf, auch wenn wir es mit einem sehr zynischen und grausamen Feind zu tun haben."

Die Hamas genießt die Kraft des Geheimnisses

Die Hamas selbst allerdings hat noch keinerlei eindeutige Stellungnahme zum Fall Mengistu und seines mutmaßlichen beduinischen Leidensgenossen abgegeben. "Wir haben darüber keine Informationen, und selbst wenn es stimmt, haben wir keine Anweisungen, darüber zu reden", sagte ein Sprecher. Möglich ist, dass sich die Herrscher des Gazastreifens von einem nervenzehrenden Versteckspiel die größeren Effekte versprechen, zumal parallel auch noch über die Rückgabe der Leichen von zwei gefallenen israelischen Soldaten gepokert werden könnte. Solange es kein Lebenszeichen gibt, ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass Mengistu oder dem anderen Gefangenen etwas zugestoßen ist.

Klarheit darüber können nur Verhandlungen bringen, die vermutlich indirekt über ausländische Mittelsmänner geführt werden müssen. Im Fall Schalit waren die Deutschen involviert, Gerüchten zufolge soll sich nun der britische Ex-Premier Tony Blair eingeschaltet haben. Die Hamas genießt indessen die Kraft des Geheimnisses. Auf einer Parade zum Jahrestag des Kriegsbeginns rief ein Sprecher der Kassam-Brigaden: "Der Krieg dauert an, solange wir die Frage der Gefangenen nicht beendet haben."

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