Soziologe über Zeitmanagement:"Das Recht auf Faulheit will erarbeitet werden"

Soziologe über Zeitmanagement: Zeit für den bequemen Sessel nimmt sich Stephan Lessenich nur selten. Der Soziologieprofessor hat in der Regel eine 60-Stunden-Woche.

Zeit für den bequemen Sessel nimmt sich Stephan Lessenich nur selten. Der Soziologieprofessor hat in der Regel eine 60-Stunden-Woche.

(Foto: Catherina Hess)
  • Stephan Lessenich leitet seit neun Monaten den LMU-Lehrstuhl für Soziologie.
  • Er ist zudem Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.
  • Lessenich propagiert die Idee einer "radikalen Arbeitszeitverkürzung" - hat aber selbst Schwierigkeiten damit, weniger als 60 Stunden pro Woche zu arbeiten.

Von Christiane Funke

"Zu reich, zu schick, zu saturiert!" Stereotypen über München wie diese hatte Stephan Lessenich, 49, im Kopf, als er den Ruf an die Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) bekam. "Du nach München, da passt du gar nicht hin", wunderten sich auch viele seiner damaligen Kollegen an der Uni Jena, als der Soziologe seinen Ortswechsel ankündigte. Er ging trotzdem, und seit neun Monaten leitet Lessenich nun den LMU-Lehrstuhl für Soziologie. Mittlerweile hat er festgestellt: "München ist gar nicht so homogen, wie es vielleicht von außen erscheint." Es gebe interessante Kreise und Subkulturen, wenngleich sie nicht so groß und vielfältig seien wie etwa in Berlin.

Und ja, die Stadt an der Isar gefalle ihm. Ebenso wie sein Büro in einem alten Wohnhaus im Herzen Schwabings, das er von seinem Vorgänger, dem am 1. Januar 2015 gestorbenen Soziologen Ulrich Beck, übernommen hat. Wichtigstes Möbelstück dort ist für Lessenich ein Sessel von seiner Oma. Darin ließe es sich sicher wunderbar faulenzen, aber dafür fehlt ihm die Zeit. Dabei fordert der Soziologe ein "Recht auf Faulheit". Das ist nicht neu. Paul Lafargue, Schwiegersohn von Karl Marx, formulierte diesen Anspruch schon Ende des 19. Jahrhunderts in einer Streitschrift. Drei Stunden Arbeit am Tag seien genug, meinte Lafargue. Und auch Lessenich propagiert die Idee einer "radikalen Arbeitszeitverkürzung".

Alle müssen Leistung bringen

"Das Recht auf Faulheit will erarbeitet werden", schreibt Lessenich in seinem Vorwort für eine 2014 erschienene Neuauflage von Lafargues Streitschrift. Aber kann, darf man das heutzutage noch fordern? "Man kann nicht nur, man muss, und zwar gerade jetzt eine Forderung stellen, die gegen den Zug der Zeit geht", sagt er. Seit zehn bis 15 Jahren erlebe die Gesellschaft einen "starken Produktivismus". Alles ziele darauf ab, die Ressourcen aller möglichst umfassend abzuschöpfen, sagt Lessenich im Jargon des Soziologen. Selbst die "jungen Älteren" würden als "Ressource entdeckt, die noch etwas leisten kann" und deren Leistungen gesellschaftlich ausgenutzt werden sollten, zumal sie vielleicht zu weiterem Wachstum beitragen könnten. In einer Gesellschaft, "die so gepolt ist auf Leistung, Ertrag und Wertschöpfung", sei die plakative Forderung Lafargues nach einem Recht auf Faulheit besonders wichtig.

"Wir produzieren jedes Quartal mehr und dennoch hat die soziale Ungleichheit gerade in den vergangenen zehn Jahren stark zugenommen", erläutert Lessenich. Je größer aber die soziale Ungleichheit sei, desto stärker sei der soziale Druck zu längeren Arbeitszeiten. Schließlich schiele jeder auf den Nachbarn und wolle gleichziehen, wenn der mehr besitzt.

Lessenich arbeitet nicht nur als Professor an der LMU, er ist zudem Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Wie war das mit dem Recht auf Faulheit? Lessenich arbeitet selten weniger als 60 Stunden pro Woche. Das alleine macht das Problem deutlich: Welcher Weg also führt aus der Wachstums- und Arbeitsspirale heraus? Die Antwort des Soziologen: "Individuelles Handeln ist meist zum Scheitern verurteilt." Der Wandel gelinge nur, wenn es kollektive Vereinbarungen für einen Verzicht gäbe. Sozialromantik, werden Skeptiker einwerfen - aber das lässt Lessenich nicht gelten. "Träum weiter" sei oft gerufen worden, etwa als es um die Abschaffung von Kinderarbeit und die Einführung einer gesetzlichen Rentenversicherung gegangen sei. Beides "ist aber längst Realität", kontert Lessenich, der als einer der profiliertesten kritischen Wohlfahrtsstaatsforscher gilt.

Der Wandel ist dringend geboten

Er ist sich sicher, dass er einen Wandel der Wachstumsgesellschaften noch erleben wird. Einen Wandel, den er für dringend geboten hält. Vor allem, da die reichen Industrienationen ihren Wohlstand zu Lasten Dritter erwerben. Lessenich spricht von einer "Externalisierungsgesellschaft", in der wir unsere Probleme auf andere abwälzen, die wir ausbeuten. Ganz nach dem Motto "Neben uns die Sintflut", wie es der Soziologe einmal in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung formulierte. "Unsere privilegierte Stellung" in der Welt, sagt er, hänge auch damit zusammen, dass andere eben nicht so privilegiert seien, "dass wir die auskonkurrieren und kleinhalten".

Sensibilisieren möchte Lessenich dafür, dass "die Lösung nicht sein wird, dass irgendwann einmal alle so leben wie wir". Vielmehr müssten auch hier Lebensformen geändert werden, damit woanders der Wohlstand steige. Wie aber den Wandel realisieren? Mit einer Umverteilung von "oben" nach "unten", progressiver Besteuerung und Änderung des Erbrechts sowie einer schrittweisen Anhebung von Mindestlöhnen und Grundsicherung, rät der Soziologe.

Die Assimilisierungsgefahr ist gering

Ihm, dem Vorkämpfer für Gerechtigkeit, der das Loblied der Gleichheit singt, muss ja der oft zur Schau getragene Luxus in München gehörig auf den Wecker gehen. "Ja, durchaus", bestätigt Lessenich. Er wohnt in einer Wohngemeinschaft in Schwabing und führt mit seiner Lebenspartnerin, einer Wissenschaftlerin der Uni Jena, eine Wochenendbeziehung. Wenn er sich beim Bäcker einen Kaffee hole, stehe dann schon mal an der Ecke "ein Porsche Cayenne oder ein Cabrio, an dem jemand in seinen schicken Ralph-Lauren-Klamotten lehnt und mal kurz telefoniert", erzählt Lessenich.

Er selbst mag es eher lässig-schlicht. Der Mann mit der Stirnglatze und dem raspelkurzen Haarkranz trägt Jeans, weißes T-Shirt und Schuhe, die ihn vermutlich schon eine ganze Weile begleiten. Belustigt berichtet er von Wetten an der Uni darüber, wann er sein Alltagsoutfit dem LMU-Standard anpasse. "Die Gefahr, dass ich mich da assimiliere, ist relativ gering", sagt Lessenich.

Zur Karriere über Plan B

Seine Laufbahn verdankt er dem Zufall und der Zentralen Vergabestelle für Studienplätze (ZVS). Der gebürtige Stuttgarter ist in Spanien aufgewachsen. Er hat in Barcelona das Abitur gemacht und wollte eigentlich Architektur studieren. Aber er bekam keinen Platz an einer deutschen Universität. Er war schon als junger Mann politisch interessiert, deswegen entschied er sich für ein Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte an der Uni Marburg und stellte bald fest, dass ihn Soziologie am meisten interessierte. Nach der Promotion in Bremen und der Habilitation in Göttingen arbeitete Lessenich zehn Jahre als Professor für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, bis er zum Wintersemester 2014/2015 den LMU-Lehrstuhl für Soziologie übernahm.

Dass er selbst frischen Wind mitbringt, hat der Professor gleich beim Einzug in das Büro seines Vorgängers Ulrich Beck bewiesen. Die dunkelbraunen Möbel, die noch von dessen Vorgänger stammten, empfand er als "drückend". Deshalb ersetzte er sie durch weiße Regale, Tische und Stühle mit Filzauflagen in seiner Lieblingsfarbe grün. Auf dem Schreibtisch steht nun ein Modell der rot-weiß-karierten Rakete von "Tim und Struppi", startklar zu einem Aufbruch aus der ernsten Welt von Forschung und Lehre in die Sphären des Humors. Dass die Atmosphäre nun "luftig, lebendig und warm" ist, genießt Lessenich.

Nicht nur sein Büro, sondern auch ähnliche Vorstellungen verbinden ihn mit Ulrich Beck. Den Autor des Bestsellers "Die Risikogesellschaft" hat er in München mehrmals getroffen, unter anderem als dieser kurz vor seinem Tod seinen 70. Geburtstag nachfeierte. In Gesprächen mit Beck über dessen Projekte, etwa zum Klimawandel, entdeckte Lessenich damals einige Schnittstellen. Auch das Verständnis von Soziologie "als einer praktischen und kritischen Wissenschaft" sei ähnlich gewesen. Mit der zentralen Intention, "nah an der Gesellschaft zu sein und keine wissenschaftsinternen Spielchen zu spielen".

Als Soziologe auf die Wiesn

Fragestellungen, die ihm im Alltag begegnen, zählen für Lessenich. Er analysiert etwa, wie sich die Einstellung gegenüber älteren Menschen oder die Diskussion über die Gleichstellung Homosexueller in den vergangenen Jahren geändert hat. Und natürlich beschäftigt ihn auch die Situation der vielen Flüchtlinge weltweit und in München. Deren Elend habe historisch auch mit unserem Wohlstand zu tun, der Kolonialisierung und dem von den nördlichen Industriestaaten zementierten, in seinen Augen ungerechten Welthandelsregime. "Das kommt über die Flüchtlinge zu uns zurück", sagt Lessenich. Er ist davon überzeugt, mit seiner Arbeit etwas bewirken zu können. Gesellschaftliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen, genügt ihm aber nicht. Selbst engagiert er sich vielseitig, etwa im wissenschaftlichen Beirat von "Attac Deutschland" oder als Mitglied der Sozialgenossenschaft "Bellevue di Monaco", die für den Schutz von Asylsuchenden kämpft und die die städtischen Häuser in der Müllerstraße 2, 4 und 6 für Wohnraum und Kulturveranstaltungen nutzen möchte.

Dass sich der Befürworter von mehr Müßiggang selbst bald auf die faule Haut legen wird, ist also nicht zu erwarten. Steht aber mal kein Pflichtprogramm an, zieht es den Fan des SV Werder Bremen mit seinem erwachsenen Sohn in Fußballstadien, in denen sein Verein antritt. Oder in das Café Baader, seinen Lieblingsort in der neuen Wahlheimat. Und wie schaut es mit einem Wiesn-Besuch aus? "Eigentlich brenne ich nicht darauf, aber als Soziologe muss ich da natürlich rein aus Beobachtungsgründen hin", erläutert er mit einem Schmunzeln. Und beobachten bedeute, nicht in der Ecke zu stehen, sondern sich unter die Leute zu mischen. Gegebenenfalls auf die Bierbank zu steigen, "wenn es der Wahrheitsfindung dient". Auch eine Mass ist wohl drin. "Bier, in Maßen genossen, schärft den soziologischen Beobachtungsgeist."

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