Jugendstrafvollzug:Timo muss bleiben

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Timo, 21, ist im geschlossenen Jugendvollzug in Herford. (Foto: Florian Gontek)

Timo hat als Teenager Tankstellen überfallen. Seit vier Jahren sitzt er im Jugendknast. Freunde hat er hier nicht, der Fernseher ist seine Verbindung zur Außenwelt. Kann danach ein normales Leben gelingen?

Von Florian Gontek, Herford

Ein Bass wummert durch die Sozialtherapieabteilung, dann ist eine leise Stimme im Gang zu hören. Ein Mann rappt über das Leben auf der Straße. Über Geld, Gewalt und Schnuff - Kokain. Die Texte des Frankfurter Hip-Hop-Duos "Celo & Abdi" passen gut hierher. Viele der 255 Bewohner, 14 bis 24 Jahre alt, sind genau wegen solcher Delikte im geschlossenen Jugendvollzug in Herford.

1883 eröffnete das damals preußische Zuchthaus in der Nähe von Bielefeld in Nordrhein-Westfalen. Der wilhelminische Baustil erinnert noch heute an diese Zeit. Drinnen, im Gesellschaftsraum, sind die Wände inzwischen so bunt wie in einer Grundschule. Timo, kurze schwarze Haare, tiefe Stimme, weißes Shirt, sitzt auf der alten Couch. Er wartet bereits. Der 21-Jährige, der eigentlich anders heißt, ist so etwas wie ein Vorzeigehäftling. Höflich, zuvorkommend, er wirkt ausgeglichen, als er seine Geschichte erzählt. Er ist das gewohnt. Hier in der Sozialtherapieabteilung hat er schon viel über sich geredet.

Vier Jahre hat Timo bereits im Gefängnis verbracht. Hier sei er reifer geworden, sagt er. Reifer als damals, als er als Teenager mit einer wesentlich älteren Komplizin Tankstellen, Supermärkte, Schnellrestaurants ausraubte. Und aus Langeweile, so sagt er später vor Gericht, Dinge anzündete. Einen Lastwagen auf einer Baustelle an der Autobahn. Ein Strohlager. Der Sachschaden: mehr als eine Million Euro. Die Strafe: acht Jahre und acht Monate Jugendgefängnis.

"Ich war einfach charakterschwach"

Wie wird man zum Straftäter? "Ich war einfach charakterschwach", sagt Timo. "Einer, der nicht nein sagen konnte." Viel mehr mag Timo vor einem Fremden dazu nicht sagen. Die Taten zählen für ihn nicht mehr. Sind passiert, abgehakt, jetzt will er weitermachen.

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:"Gefängnis ist keine Lösung"

Die Politik könnte viel mehr tun, um die Gesellschaft vor Wiederholungstätern zu schützen, sagt Jurist Bernd Maelicke. Indem sie weniger Menschen einsperrt.

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Timo gelingt das auf den ersten Blick. Seine Ausbildung hat er gerade abgeschlossen, mit der Note 2,5. "Das ist okay", findet er. Anfang Juli hat er den Gesellenbrief als Koch bekommen. Ein Feingeist sei er nicht in der Küche, er bevorzuge Hausmannskost. "Etwas Handfestes", wie er sagt. Ein Stellenangebot nach der Haft hat er bereits. Allerdings nicht als Koch, sondern in der Gebäudesicherheit. Dort wird Timo auch nachts arbeiten müssen. Er will flexibel sein: Hauptsache Arbeit.

Immer wieder blicken Mithäftlinge in den Gesellschaftsraum. Ein Gast erregt Aufsehen in der JVA Herford. Hier gibt es ausschließlich Einzelzellen, sie sind offen. Fernsehschauen, Karten spielen, damit vertreiben sich die Häftlinge die Zeit. So etwas wie Gemeinschaft gibt es dennoch kaum. Die Mitgefangenen sind für Timo keine Freunde.

"Hier entwickelt man eine Überlebenstaktik. Das sind Zweckgemeinschaften: Wenn es hart auf hart kommt, würde man stehengelassen. Meistens jedenfalls", sagt er. Deshalb hält er Distanz, ist misstrauisch. Schon bei alltäglichen Dingen wie dem Tausch von Tabak wird es in der Jugendvollzugsanstalt schnell laut. Niemand will sich übers Ohr hauen lassen.

Mit seiner ehemaligen Komplizin hat Timo keinen Kontakt mehr, vor Gericht sagte er aus, sie habe ihn zu den Taten verleitet. Nur wenige Menschen außerhalb der Gefängnismauern haben zu Timo, dem Straftäter, gehalten. Seine Freundin nicht. "Dann sollte man es auch gut sein lassen", sagt er. Die hellorangefarbene Wand über seinem Bett ist mit Pin-ups tapeziert. An der Wand hängt ein Erotikkalender. Die JVA Herford ist eine Männerwelt. Eine Männerwelt mit nur wenig Privatsphäre.

Timos Zelle ist elf Quadratmeter groß, ein kleiner Ventilator steht hier, eine Kaffeemaschine, eine Sporttrophäe von früher, Grünpflanzen. Eine davon vor den blauen Gitterstäben, die das Fenster verriegeln. "Der Fernseher ist meine Verbindung zur Außenwelt", sagt Timo. Einen Computer besitzt er nicht. Ein Handy ist tabu. Über seinem Schreibtisch hängen Fotos, die ihn mit Familie und Freunden zeigen. Er ist darauf schlanker als heute, zarter, ein Junge. Inzwischen ist sein Gesicht markanter, Timo ist erwachsen geworden.

"Mittlerweile sind es ganz andere Gespräche mit ihm", sagt Anstaltsleiter Friedrich Waldmann. "Mehr auf Augenhöhe", da sind er und Timo sich einig. Für Waldmann ist der 21-Jährige ein Beispiel dafür, wie es laufen kann, wenn es gut läuft. Waldmann, Jurist und seit 29 Jahren im Vollzugsdienst, ist ein geduldiger Mann, aber kein Kumpeltyp. "Sozialromantiker sind wir hier sicher nicht", sagt er. Dafür ist er zu lange dabei.

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4276 Jugendliche (Stand: 30.11.2014) sitzen derzeit in Deutschland im Jugendstrafvollzug. Der Strafrahmen liegt zwischen sechs Monaten und zehn Jahren. Der Grundsatz im Jugendstrafrecht lautet: Erziehung vor Strafe.

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Doch dafür braucht es Zeit, findet Waldmann. Unterstützung geben - das sei für ihn und die 236 Kollegen in der Herforder JVA das Wichtigste. Doch viele Häftlinge bleiben nicht einmal zwei Jahre. "Häufig reicht die Zeit nicht, um den jungen Menschen andere Strukturen mitzugeben." Die Sozialtherapie in Herford, etwa für Gewalt- und Sexualstraftäter, ist auf drei Jahre angelegt. Genau wie die Berufsausbildung.

Neuankömmlinge müssen zunächst in der Aufnahmeabteilung Persönlichkeitstests durchlaufen. Interessen werden ausgelotet, das schulische Potenzial getestet. 90 Prozent seien auf einem Niveau vergleichbar mit dem der "fünften, sechsten Klasse Hauptschule", sagt Waldmann. Eine Chance auf einen Ausbildungsplatz außerhalb der Gefängnismauern hätte kaum einer von ihnen.

Also wird intensiv gefördert, besonders in den Fächern Deutsch und Mathematik, ehe dann die Berufsausbildung beginnt. Zehn unterschiedliche Fachrichtungen werden derzeit angeboten, ausschließlich Handwerkliches. Vieles, was in Herford produziert wird, wird später verkauft. Grills, zum Beispiel.

Die Gesellen- oder Facharbeiterbriefe, die die Jugendlichen nach Ende ihrer Ausbildung bekommen, lassen nicht auf die JVA Herford schließen. Hier wird der Makel Knast ausradiert. Bei der Vermittlung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen nach der Haft gibt es Hilfe. Die Vermittlungsquote ist gut. "Etwa 60 Prozent der entlassenen Häftlinge gehen direkt in ein Arbeits- oder fortgesetztes Ausbildungsverhältnis über", sagt Waldmann. Wie viele das auch durchziehen, kann er nicht sagen. Rückmeldungen ehemaliger Häftlinge seien selten.

Eine Stunde am Tag haben die Straftäter Freizeit. Natürlich innerhalb der Mauern, doch die Möglichkeiten sind vielfältig. Die JVA in Herford bietet das einzige Gefängnis-Footballteam Deutschlands. Außerdem eine Kletterwand und seit neuestem Klavierunterricht. Sonntags kann man in der Kirche beten. Doch trotz der vielen Ausgleichsmöglichkeiten, das muss Waldmann zugeben, ist die Gewalt unter den Gefangenen in den vergangenen Jahren nicht zurückgegangen.

Timo will damit nichts zu tun haben. Er bereitet sich lieber auf sein Leben nach dem Knast vor. In Gesprächen, beim Sport - all das gilt hier als Resozialisierung. Seine Chancen sind nicht einmal schlecht: Jugendstraftätern wie ihm, denen nach der Haft Wohnung und Job vermittelt werden können, wird eine Rückfallquote unter 30 Prozent bescheinigt.

Der 21-Jährige will nach der Haft zu seiner Familie zurückkehren, will seine sozialen Kontakte pflegen, will arbeiten gehen. Ein ganz normales Leben führen eben. Ob das nach so langer Zeit hinter Gittern gelingt? Bis Timo das herausfindet, wird es noch eine Weile dauern. Denn erst einmal muss er bleiben. Zwei Jahre voraussichtlich.

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