Schweiz:Das Alpen-Delhi

Engelberg in der Zentralschweiz ist der Sehnsuchtsort indischer Touristen. Ein Besuch während der Hauptsaison.

Von Hans Gasser

Zubin Bejan Contractor ist ein ungeduldiger Mann. Besser gesagt: Zubin Bejan Contractor muss ein ungeduldiger Mann sein, denn diese Eigenschaft ist Berufsvoraussetzung für ihn. An einem Morgen im Mai steht der Reiseleiter, seinen Rucksack geschultert, am Rand des Frühstücksbuffets und blickt über viele Köpfe hinweg in den Saal. Ende dreißig ist er und groß, mit dunklem, gestutzten Schnauzbart. Seine Augen sind gerötet, sie wirken müde. An großen runden Tischen sitzen viele seiner indischen Landsleute unter einer hohen Stuckdecke und lassen sich das Frühstück schmecken. Es gibt Sambar und Medu Vada. Das eine ist eine gelbe Sauce, in der viele rote Chilischoten schwimmen, das andere sieht aus wie frittierte Donuts. Sambar wird in eine Müslischüssel gegossen und mit Medu Vada aufgetunkt.

"Das ist ein völlig schandhaftes Verhalten", sagt Zubin leise und schaut auf die Uhr. In zwei Minuten ist es Dreiviertelacht. Zu diesem Zeitpunkt müssten seine Gäste bereits das Jugendstilhotel Terrace verlassen und die kleine, hoteleigene Zahnradbahn besteigen. Nur so könnten sie pünktlich um acht unten in Engelberg mit dem Bus losfahren. Stattdessen muss Zubin nun zusehen, wie Teile seiner Reisegruppe sich noch jetzt in aller Seelenruhe an die großen runden Tische setzen, um ihr indisches Frühstück einzunehmen.

Es ist Tag sechs der 17-tägigen "Classic Tour of Europe". Am Abend zuvor ist die 35-köpfige Gruppe in der Zentralschweiz angekommen, im Bergdorf Engelberg auf 1000 Metern Höhe. Es hat geschneit - im Mai! Vorher waren sie in London, Brüssel, Amsterdam, Köln, Heidelberg, in Titisee im Schwarzwald und am Rheinfall in Schaffhausen. Heute steht der Höhepunkt auf dem Programm: Fahrt mit der Seilbahn auf den "Mount Titlis", mit 10 000 Fuß der höchste Berg der Zentralschweiz - so verspricht es der Prospekt des Veranstalters SOTC. Er verspricht auch viel Zeit, um "im Schnee zu spielen" und, mit das Wichtigste, einen indischen Lunch im Bergrestaurant. Weitere Tagesordnungspunkte sind die Besichtigung einer Schaukäserei, einer Glasbläserei, das Löwendenkmal in Luzern, Einkaufen in Luzern und eine Bootsfahrt auf dem Vierwaldstätter See. Ein langer Tag also, aber man müsste halt mal los. Zubin geht nun von Tisch zu Tisch, stupft die Leute von hinten ziemlich unsanft an und sagt Dinge in indischen Sprachen, die nicht sehr freundlich klingen. Manche seiner Gäste machen abwehrende Handbewegungen. Andere ignorieren ihn.

Als schließlich alle im Bus sind, ist es eine halbe Stunde später als geplant. Sehnsüchtig blickt der Reiseleiter einem Bus mit NRIs nach, der pünktlich auf die Minute abgefahren ist. NRIs, erklärt Zubin, sind Inder, die im Ausland, vor allem in den USA und Kanada wohnen. "Sie kennen den Wert der Zeit und die Kultur der Pünktlichkeit."

Nach zehn Minuten ist die Talstation der Seilbahn erreicht. Der Busfahrer ist Ostdeutscher. "Letztes Jahr hab' ich Chinesen gefahren, dieses Jahr eben Inder", sagt er. "Mal sehen, wie's wird." Zurzeit sind 24 Busse mit Indern im Dorf. Mai und Juni ist Hauptsaison. Das Hotel Terrace am Sonnenhang oberhalb von Engelberg ist mit 350 indischen Gästen fast ausgebucht. Würde man jemanden mit verbundenen Augen in das alte Hotel bringen, er würde wohl darauf wetten, in Kaschmir gelandet zu sein. Rund 57 000 Übernachtungen indischer Gäste haben sie in Engelberg 2013 gezählt, nur in Zürich sind es mehr. Die Engelberger haben früh den wachsenden indischen Tourismusmarkt beackert, sie haben Dutzende Bollywood-Regisseure auf grüne Kuhweiden oder auf den Gletscher des Titlis geführt, damit diese dort ihre Herzschmerzfilme drehen konnten. Aber vor allem haben sie das Glück gehabt, dass Kuoni, der größte Schweizer Reiseveranstalter, SOTC gekauft hat, den größten indischen Reiseveranstalter, und damit zum Marktführer in Indien wurde.

Schweiz: Das Fotostudio am Gipfel des Titlis ist eine Hauptattraktion für indische Touristen.

Das Fotostudio am Gipfel des Titlis ist eine Hauptattraktion für indische Touristen.

(Foto: Hans Gasser)

Die Leute von Kuoni hatten auch die Idee gehabt, aus dem leer stehenden alten Kurhotel Terrace eine Art "Indian Village" zu machen. Die Bergbahnen, denen das Hotel gehört, speziell ihr damaliger Direktor Albert Wyler, fanden, das sei eine gute Idee. Denn er kannte die Totenstille eines Schweizer Skiortes in den Monaten April, Mai, Juni. "Wer will denn schon in diesem Matsch Urlaub machen?" fragt Wyler. Der ehemalige Bergbahndirektor schaut aus dem Fenster: Draußen ist alles weiß, die Temperatur liegt knapp über Null Grad. "Wir sehen das und sagen: Scheiße! Die sagen: wonderful!" Wylers Weitsicht ist es zu verdanken, dass der Titlis heute eine Marke in Indien ist. Er hat auch schnell begriffen, dass man "der etwas speziellen Klientel" eben das bieten müsse, was sie brauche: "Inder brauchen indisches Essen. Wenn sie das nicht kriegen, dann holt die Mama den Bunsenbrenner raus und eine Büchse Curry und kocht auf dem Zimmer." Damit das nicht passiert, kochen im Hotel Terrace und im zugehörigen Bergrestaurant am Titlis sieben eigens engagierte indische Köche original indisches Essen.

Die Seilbahn hat nun die Spitze des Titlis erreicht, 3238 Meter über dem Meer. Zubins Gäste sind alle da. Sie haben freudig aus dem Fenster geschaut, fotografiert und gefilmt, obwohl da nur ein weißes Einerlei vorüber zog. Wegen des schlechten Wetters von Panorama keine Spur. Die Inder stört das nicht. Manch älterer Herr hat zur Sicherheit schon in der Bahn eine wollene Sturmhaube aufgesetzt, manch ältere Frau trägt Sari, Socken und Sandalen, dazu nur eine dünne Windjacke. Minus zehn Grad haben sie frühmorgens auf dem Titlis gemessen.

Bevor sich Zubin mit seinen Reiseführerkollegen ins Bergrestaurant verzieht, bläut er der Gruppe mit ernster Miene Uhrzeit und Treffpunkt ein. Dann werden sie drei Stunden auf den Gletscher entlassen. So viel Freizeit bekommen sie weder in Paris noch in London. Aber schließlich ist dies der Höhepunkt ihrer Europareise, der Gipfel des Exotischen: Schweiz, Gletscher, Schnee. Der Aufzug Richtung Gletscher hält aber zunächst einmal vor einem Fotostudio. Es hat sich eine dicke Menschentraube vor dem Eingang gebildet. Drinnen im "Nostalgic Photo Studio" helfen zwei Frauen den Indern in Dirndl und Trachtenjoppe, und setzen ihnen Filzhüte auf. Der Mann bekommt wahlweise Bergseil, Gewehr oder Alphorn über die Schulter, die Frau einen Strauß Kunstblumen in die Hand. Dann werden sie vor eine Fototapete mit dem Titlis gestellt, fotografiert, abkassiert. 35 Franken kostet das kleinste Bild samt Passepartout, Rahmen extra. Der Chef des Studios kommt mit dem Kassieren kaum hinterher, gleichzeitig verkauft er Handschuhe. Sie finden reißenden Absatz.

Draußen auf dem Gletscher läuft Shyam Biyani unter einer Versace-Sonnenbrille durch den Neuschnee. Seine Frau Ruchira folgt in einigem Abstand. Sie hält ein Handy, durch dessen Lautsprecher indische Popmusik scheppert. Dazu singt sie. " Musik auf Drogen" sei dies, scherzt Shyam. Die Kinder der beiden toben im Schnee. Nicht nur die Kinder. Erwachsene Männer, sogar alte Frauen im Sari klettern auf Schneehügel, um auf dem Hintern herunterzurutschen. Andere posieren strahlend vor Fotokameras mit Schnee in der hohlen Hand, als sei es Goldstaub. Shyam ist da gefasster. Er war schon mehrmals in Europa, Schnee ist kein neues Element für ihn und die Reise, so sagt er, mache er eigentlich nur wegen seiner Kinder. Shyam ist 33, von Beruf Sohn und Teilhaber eines großen Bekleidungsunternehmens in Mumbai. 5000 Menschen arbeiten für ihn und seine Familie, 70 Geschäfte haben sie und 1500 Näherinnen. Als gehobenen Mittelstand bezeichnen die Schweizer Touristiker ihre indische Klientel, es sind viele Unternehmer, aber auch Ärzte und Anwälte darunter. Die Reise kostet rund 2000 Euro. Verreist wird nur im Clan, Vater, Mutter, Kinder, Großeltern, manchmal auch Onkel und Tanten. Ein Hauptverkaufsargument, hatte der Bergbahndirektor gesagt, sei das Essen: "Du fährst mit mir nach Europa und ich garantiere dir, dass du den Bunsenbrenner nicht brauchst."

Schweiz: Für Inder ist es einfacher, Gletscher und Schnee in den Alpen zu erfahren, als sie im Himalaya zu erleben.

Für Inder ist es einfacher, Gletscher und Schnee in den Alpen zu erfahren, als sie im Himalaya zu erleben.

(Foto: Engelberg-Titlis Tourismus/Christian Perret)

Im Bergrestaurant auf 2400 Metern sitzt die Gruppe an Holztischen unter Lampenschirmen, die früher mal Kuhmelkmaschinen waren. Vor dem Fenster ziehen die Nebel umher, ab und zu geben sie den Blick frei auf Felswände und Gletschereis. Es gibt indisches Buffet. Dal, die Sauce aus Linsen und scharfem Curry, die nie fehlen darf, genau wie Chicken Tandoori, und Reis. "Inder lieben das Essen und sie sind diesbezüglich sehr konservativ", sagt Manisha Doshi. Die 35-jährige Ärztin ist mit ihren zwei Kindern unterwegs und mit der Familie ihrer Schwägerin. Der Mann, Börsenmakler in Mumbai, hatte keine Zeit. Warum Inder so sehr auf die Schweiz abfahren, erklärt Manisha so: In indischen Filmen sind Liebes- oder gar Bettszenen tabu. Stattdessen werden an verfänglicher Stelle die typischen Tanz- und Singszenen gezeigt. Und die spielen oft auf Schweizer Almwiesen, an Bergseen oder auf dem Gletscher. "Mit Filmen", sagt Manisha, "kann man Menschen lenken."

Reiseleiter Zubin braucht zum Lenken seiner, "komplett unorganisierten Gruppe" eine laute Stimme und einen gestrengen Gesichtsausdruck. Bis an der Talstation alle 35 im Bus sind, dauert es eine halbe Stunde. Der Busfahrer weiß mittlerweile mehr: "Ich habe erst mal 'ne Stunde den Bus geputzt. Die werfen alles auf den Boden. So was hab ich noch nicht erlebt."

Im Schnelldurchlauf geht es nun durch die Käserei, in der ein blondes Mädchen hinter Glas stockende Milch umrührt, weiter zur Glasbläserei, dann nach Luzern, zum Schokolade kaufen und Bootfahren. Doch alles, was jetzt noch kommt, scheint niemanden mehr wirklich zu beeindrucken, löst nicht mehr diese kindliche Freude aus, die oben auf dem Gletscher in allen Gesichtern zu sehen war. Auf der Rückfahrt aus Luzern trägt der indische Sänger, der vom Reiseveranstalter engagiert wurde, weinerliche Lieder in Hindi vor. Alle singen mit.

Zubin verabschiedet seine Gruppe mit den Worten: "Wir müssen morgen einen Zug erwischen, um auf die Jungfrau zu fahren, einen Schweizer Zug. Dazu müssen wir um Punkt acht Uhr Schweizer Zeit, hören Sie, - nicht indischer Zeit! - hier wegfahren. Wenn nicht, dann versäumen wir ihn. Und das ist dann Ihr Problem, nicht meines. Schönen Abend."

Den verbringt Zubin allein am Bartresen, den Kopf auf die Hand gestützt. Der Ellbogen rutscht langsam weg, der Kopf rückt immer tiefer. Er sieht jetzt sehr, sehr müde aus. "Es reicht völlig, wenn wir morgen um halb neun losfahren", sagt er leise. "Denn ich kalkuliere immer eine halbe Stunde Pufferzeit ein."

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