Bartgeier:Die Lockvögel

Bartgeier: Der Biologe Michael Knollseisen wildert seit mehreren Jahren jeden Sommer junge, in Gefangenschaft geborene Bartgeier in den Alpen aus.

Der Biologe Michael Knollseisen wildert seit mehreren Jahren jeden Sommer junge, in Gefangenschaft geborene Bartgeier in den Alpen aus.

(Foto: Hans Gasser)

Wie zwei Geier für Tirol werben müssen, bevor sie endlich in die Freiheit entlassen werden. Ein Lustspiel in drei Akten.

Von Hans Gasser

Ein Lustspiel in drei Akten

Personen:

Der Geierbetreuer (Michael Knollseisen)

Der Professor (Hans Frey)

Der Investor (Heinz Schultz)

Der Nationalparkdirektor (Hermann Stotter)

In weiteren Rollen: Die Bezirkshauptfrau, ein deutsches Kamerateam, Schaulustige, zwei Bartgeier

1. Akt (Ein idyllisches Hochtal in den Tiroler Alpen)

Es ist ein steiler Hang. Michael Knollseisen geht zügig voran. In einer Hand hat er einen langen Holzstock, auf dem Kopf einen Filzhut und auf dem Rücken eine Kraxe mit zwei Säcken Schafwolle. Unten im Dorfertal schäumt der Wildbach, links und rechts schießen von den Bergkämmen Wasserfälle herunter. Hinten über dem Talschluss sind die Gletscherbrüche des Großglockners zu sehen. Es gibt keinen Steig, nur eine unsichtbare Linie, der Knollseisen im Zickzack folgt: über giftgrünes Gras, Enziane und weiter oben durch Felder von Almrausch, der gerade zu blühen beginnt. Es liegt Ruhe über dem Tal, nur das Rauschen des Wassers ist zu hören.

Diesen rutschigen Osthang wird der Mittvierziger im Sommer oft hinaufsteigen. Denn hier, 300 Höhenmeter über dem Talgrund, hat er in eine Felsnische neben einem Wasserfall den Geierhorst gebaut. "Der Spanier soll ein bisschen aggressiv sein", sagt Knollseisen, während er die Schafwolle auf dem Fels ausbreitet, "das könnte unangenehm werden, wenn der morgen mit seinen sechs Kilo in der Kiste auf meinem Rücken hin- und herspringt." Zwei jungeBartgeier, einer aus dem Berliner Zoo, der andere aus einer Zucht in Andalusien, sollen morgen hier in den Horst gesetzt werden. Sie können noch nicht fliegen und müssen gefüttert werden. Knollseisen wird das übernehmen. Er ist der Bartgeier-Beauftragte im Nationalpark Hohe Tauern. Alle zwei bis drei Tage muss er hier herauf, um ihnen Schafsknochen in die Felsnische zu werfen, ohne dass sie ihn sehen. Die Tiere sollen ja verwildern. Bartgeier ernährten sich von dem, was andere Tiere übriglassen, erklärt der Wildbiologe, "ihre Lieblingsspeise sind Knochen". Die ursprünglich im ganzen Alpenraum verbreiteten Tiere wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgerottet.

Dank eines seit 35 Jahren laufenden Ansiedlungsprojektes gibt es wieder 170 Bartgeier in den Alpen. Seit 1997 brüten sie wieder, 69 Jungvögel sind in seitdem in freier Natur geschlüpft. "Ich konnte es nicht glauben und musste immer wieder durchs Spektiv schauen, als ich das erste Mal einen wilden Jungvogel gesehen habe", sagt Knollseisen. Mit seinem blonden Bart, den unterm Hut herausquellenden Locken und den wasserblauen Augen sieht er aus wie eine freundliche, zurückhaltende Version des jungen Reinhold Messner. Seit 15 Jahren lässt er schon Bartgeier frei. Doch nervös ist er trotzdem ein wenig. Zwei Fernsehteams haben sich für den nächsten Tag angesagt, Radio Tirol berichtet live, Politiker kommen und vermutlich Hunderte Schaulustige. Die Präsentation der Geier wird nicht hier im stillen Dorfertal, sondern auf der "Adler Lounge" stattfinden, der riesigen Bergstation einer neuen Seilbahn, die die Skigebiete Kals und Matrei verbindet. "War nicht meine Idee", sagt Knollseisen.

2. Akt (Tal- und Bergstation der Seilbahn, später idyllisches Hochtal)

Die Geier kommen! Auf dem Parkplatz an der Talstation fährt ein Pick-up des Nationalparks vor, zwei Kisten werden ausgeladen. Die Filmer und Fotografen umringen sie, durch die Schlitze ist aber nicht mehr als ein flaches Bündel grauer Federn zu sehen. Knollseisen wird vom deutschen Fernsehteam verkabelt und mit Mikrofon versehen. Der Nationalparkdirektor begrüßt die "zahlreich erschienene Presse", vor allem aber die Bezirkshauptfrau und den Skigebiets-Investor. Die beiden werden die Paten der zwei Geier sein. Der ganze Tross steigt in die Gondeln. Zuletzt werden die Vögel eingeladen. Das Fernsehteam zwängt sich dazu.

Während der Fahrt zur Adler Lounge erzählt der Professor erstaunliche Geschichten über die Geier. Der ältere Herr ist einer der Gründer des Schutzprojekts und betreibt bei Wien eine Zuchtstation. Er hat die zwei Vögel am Flughafen Wien abgeholt und sie hergefahren. "Bartgeier", sagt er, "können ein totes Tier tranchieren wie ein Fleischhauer." Und sie seien sehr neugierig, flögen mit ihren drei Metern Spannweite oft wenige Meter über Wandererköpfe. "Bei Skirennen im Winter schaut manchmal ein Bartgeier in die Kamera - das habe ich schon zweimal erlebt." Zu dem Spektakel um die Freilassung sagt er, milde grinsend: "Ein notwendiges Übel."

Drei Fußminuten oberhalb der gigantischen Bergstation wurde eine kleine Felsnische mit Schafwolle präpariert. Da der richtige Horst so schwer zugänglich ist, soll hier für die Medien ein ähnliches Motiv geschaffen werden. Knollseisen nimmt einen der Vögel aus der Kiste und legt ihn in die Nische. Verdattert liegt das große Tier darin, während Fotografen und Fernsehteams ihre Objektive darauf richten, als sei es das goldene Kalb. Der Investor aus dem Zillertal, dem das Skigebiet gehört, ist immer gut im Bild. Er kraxelt neben dem falschen Horst herum und ruft der Bezirkshauptfrau zu: "Olga, da tun wir ein Schildl aus Kupfer hin und schreiben drauf: Freilassungsort der Bartgeier." Olga findet's gut.

Die Seilbahn surrt und schaufelt Hunderte Schaulustige aus dem Tal auf 2600 Meter. Auf der Terrasse derAdler Lounge, von der man den Großglockner und den Großvenediger sieht, hat sich die Blasmusik aus Kals postiert. Der Verkauf von T-Shirts mit fliegendem Bartgeier darauf läuft wie geschmiert.

Unten, an der Mauer der Bergstation, werden die zwei Geier beringt. Einzelne Flügelfedern werden mit Wasserstoff gebleicht, damit die Tiere später in der Luft wieder zu erkennen sind. Der Andrang ist so groß, dass der Professor und Knollseisen mit einem roten Abtrennband geschützt werden müssen. "Jetzt kriegt er Strähnchen", ruft einer aus der Menge. Der Redakteur des deutschen Fernsehteams gibt Anweisungen: "Jetzt mal bitte konzentriert auf den Geier schauen!" Knollseisen bewahrt die Ruhe, beantwortet geduldig Fragen wie: "Ist das jetzt gut vor sich gegangen, oder hat er Stress?" Der Geier liegt auf dem Rücken, hat eine Decke über dem Kopf und strampelt wild mit den Fängen.

Auf der Terrasse beginnen nun die Ansprachen, umrahmt von Blasmusik. Der Nationalparkdirektor begrüßt die Politiker, den Professor, die Presse. Dann dankt er dem Investor für die besonders gute Zusammenarbeit mit dem Nationalpark, ohne solche Gönner gehe es nicht. Der Investor bedankt sich seinerseits, dass er hier, vor den Toren des Nationalparks, "investieren durfte", alles behindertengerecht. So könne er vielen Menschen einen Blick ermöglichen, wie ihn sein Geier jeden Tag haben werde: "Ich hoffe, er schaut öfter vorbei." Schließlich werden die Geier Tschadin und Figol getauft, alte, romanische Flurnamen.

Am Nachmittag fährt der ganze Tross wieder ins Tal und von dort mit Kleinbussen im Konvoi in den Nationalpark hinein. Knollseisen und ein Kollege laden die Geier in Holzkisten auf ihre Kraxen. Das deutsche Fernsehteam will mit bis zum Geierhorst. Doch als sie am Fuß des steilen Hangs ankommen sind, bricht ein Gewitter los. Es schüttet, Blitze schlagen in die Berggrate ein. Knollseisen und sein Kollege steigen auf, das Fernsehteam kommt pudelnass zurück. Also interviewen sie den Nationalparkdirektor, wie gefährlich das jetzt sei und ob er noch "Funkkontakt" zu den beiden habe. Hat er nicht, sagt er, und: "Einen guten Tritt braucht man halt." Durch die bereitgestellten Spektive ist zu sehen, wie die Geier in die Felsnische gelegt werden und befreit mit den Flügeln schlagen.

3. Akt (Das idyllische Hochtal in den Tiroler Alpen, am Tag danach)

Michael Knollseisen sitzt im dicken Pullover am Wanderwegim Nationalpark. In seinem Rücken dient ein kleiner Kiosk als Wetterschutz, vor ihm stehen drei Spektive. Durch eines schaut er immer wieder selbst und kommentiert, was die beiden Geier gerade machen. Er ist erleichtert, dass die Tiere nun im Horst sind, ihre Ruhe haben. "Das war schon etwas heftig gestern", sagt er. Nach der letzten Auswilderung sei die Besucherzahl im Dorfertal stark angestiegen: "Die Leute kommen Geier schauen." Heute ist wenig los, Regenwetter. Langweilig sei ihm aber nie, beteuert Knollseisen, denn bei den Geiern tue sich ja ständig was: "In einem Monat machen sie ihre ersten Flugversuche. Dann bleiben sie noch ein paar Wochen im Tal, wo ich ihnen Knochen auslege. Und auf einmal sind sie weg."

Wie der junge, besenderte Geier im vergangenen Jahr. Im Oktober sei er an einem Tag von Kärnten bis in die Toskana geflogen, in die Apuanischen Alpen, wo er den Winter verbrachte. "Und genau am Ostermontag, als ich hingefahren bin, um ihn zu sehen, ist er wieder zurückgeflogen - trotz des vulkanbedingten Flugverbots."

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