Bautechnik:Feuer an der Fassade

Dämmplatten an Häusern können brennen, bestätigen jetzt die Bauminister. Schutz sollen einige einfache Tipps in einem versteckten Merkblatt bieten.

Von Güven Purtul

Das Merkblatt kommt unspektakulär daher: schmucklos, ohne Betonung der wichtigen Passagen und in bestem Behördendeutsch. Seit Montag steht es gut versteckt auf der Webseite der Bauministerkonferenz (www.is-argebau.de), am Mittwoch veröffentlichte es auch das staatliche Deutsche Institut für Bautechnik in seinem Newsletter (www.dibt.de). Nirgendwo auf den Webseiten gibt es einen gesonderten Hinweis auf den Inhalt, der einigen Aufruhr verursachen könnte. In dem Merkblatt geht es um die Feuergefahr, die von Wärmedämmung ausgeht. Auf Millionen Hausbesitzer in Deutschland könnten hohe Kosten zukommen, außerdem droht neuer Streit zwischen Vermietern und Mietern. "In Einzelfällen", so stellen die Landesminister im ersten Satz fest, "ist es vorgekommen, dass Fassaden mit Wärmeverbundsystemen aus Polystyrol in Brand geraten sind." Das hatte in der Politik, und erst recht in der Industrie, lange niemand wahrhaben wollen.

Daraus ziehen die Politiker nun zwei Konsequenzen. Erstens haben sie für Neubauten und künftige energetische Sanierungen "modifizierte technische Regelungen für Fassadensysteme mit Polystyroldämmplatten" erarbeitet. Im Klartext: Alle Zulassungen für Wärmedämmverbundsysteme (WDVS) mit Polystyrol, dem fast konkurrenzlos billigsten Material für diese Aufgabe, müssen in den kommenden Monaten geändert werden. Und zweitens gibt das Merkblatt Verhaltensregeln für Besitzer und Bewohner bereits gedämmter Häuser. Sie sollen "bei der Lagerung von brennbaren Materialien" einen "Mindestabstand von drei Metern zur Fassade" einhalten. Mülltonnen aus Kunststoff direkt am Gebäude sollten eine "geschlossene Einhausung aus nicht brennbarem Material" erhalten, also Beton oder Stahl.

Die Hinweise könnten Leben retten. Tatsächlich geht es nämlich nicht nur um Einzelfälle. Obwohl es keine zentrale Erfassung von Bränden mit Beteiligung von Polystyrol gibt, hat die Frankfurter Feuerwehr mehr als 70 Ereignisse im Bundesgebiet aufgelistet, bei denen der Dämmstoff eine Rolle gespielt hat. Darunter waren dramatische Feuer wie das in Berlin-Pankow, bei dem 2005 zwei Bewohner in Rauchgasen erstickten, oder in Delmenhorst 2011, wo 200 Menschen obdachlos wurden.

Nach elf Minuten brannte der Sockel mit - wenig Zeit für die Feuerwehr

Nach einem Aufsehen erregenden Großbrand 2012 in Frankfurt am Main forderte der Frankfurter Feuerwehrchef Reinhard Ries, dass der Dämmstoff "dringend überprüft werden muss". Und zwar unabhängig. Bis dahin hatten nämlich die Hersteller des Materials die vom DIBT geforderten Zulassungstests selbst beauftragt und bezahlt. Die Bauminister beriefen nun eine Gruppe von Brandexperten - ohne Beteiligung der Industrie -, um die Brände zu untersuchen. Im Februar 2014 entzündeten sie unter einem handelsüblichen WDVS einen 200 Kilogramm schweren Holzstapel, dessen Brandlast dem eines vollen Mischmüll-Containers entsprach. Mindestens 20 Minuten hätte das Dämm-System aus Polystyrol und Putz den Flammen standhalten sollen, doch nach elf Minuten gab es erste Anzeichen für ein Mitbrennen des Sockels. Zwei Minuten später öffnete sich das WDVS und ging in den Vollbrand über. Im Ernstfall hätte die Feuerwehr kaum genug Zeit gehabt, den Brand zu löschen.

"Die Besonderheit des auf Ölbasis hergestellten Materials Polystyrol ist, dass durch die Hitze geschmolzenes und ablaufendes Polystyrol sich an der Brandquelle im Sockelbereich entzünden kann, die Brandlast also während des Brandverlaufs noch zunimmt", heißt es im internen Abschlussbericht der Expertengruppe. Das ließ sich verhindern, zeigten weitere Versuche, indem im Sockelbereich zwei zusätzliche Brandriegel eingezogen wurden. Dabei handelt es sich um 20 Zentimeter dicke Streifen aus nicht brennbarer Steinwolle, wie sie weiter oben bereits bei jedem zweiten Stockwerk vorgeschrieben sind. Sie dürfen aber nicht wie üblich verklebt, sondern müssen verdübelt werden. "Diese Maßnahmen haben sich bewährt", sagt Gerhard Scheuermann, Leiter der Projektgruppe und Vorsitzender der Fachkommission Bauaufsicht. "Das System hielt den Flammen stand."

Im November 2014 beschlossen die Bauminister, dass die zusätzlichen Brandriegel bei Neubauten und Modernisierungen Pflicht werden sollen. Doch bis heute hat das DIBT diese Maßgabe nur in Form unverbindlicher Hinweise veröffentlicht. "Es müssen bis zu 300 Zulassungen geändert werden", sagt Scheuermann, "das kostet Zeit". Die meisten Bauherren würden sich bereits freiwillig an den neuen Richtlinien orientieren.

Wäre es womöglich sogar ratsam, keine Autos mehr vor der Fassade abzustellen?

Anderen Fachleuten genügt das nicht. "Die neuen Richtlinien müssen schnellstens verbindlich eingeführt werden", fordert der Frankfurter Branddirektor Ries. "Und natürlich müssen die Maßnahmen auch im Bestand umgesetzt werden." Doch dieser Aufruf verhallt: "Bei Bestandsbauten muss man auch die Verhältnismäßigkeit sehen", sagt Scheuermann. Die Mindestabstände aus dem Merkblatt sollen hier das Schlimmste verhindern.

In einer früheren Fassung des seit Monaten diskutierten Merkblatts stand sogar noch der Hinweis, dass Kraftfahrzeuge "nicht unmittelbar an der Fassade stehen" sollten. Doch dieser Passus fiel offenbar dem Rotstift eines Juristen zum Opfer. "Wenn ein Fahrzeug zugelassen ist, ist es in Ordnung", begründet Scheuermann die Streichung, "weil nicht davon auszugehen ist, dass es anfängt zu brennen." Dass es jemand anstecken könnte, um das Haus in Brand zu setzen, sei nicht Gegenstand des Merkblatts. Vandalismus gehöre "zu den natürlichen Lebensrisiken".

Die Bauminister haben sich immerhin noch zu dem Hinweis durchgerungen, dass die ordnungsgemäße Instandhaltung des WDVS "Voraussetzung für die Schutzwirkung einer Fassade im Fall einer Brandeinwirkung" ist. "Putzschäden bedürfen immer einer zeitnahen und fachgerechten Beseitigung." Dabei sehen viele Dämmfassaden schon nach wenigen Jahren schäbig aus. Schon ein achtlos gegen die Hauswand geworfenes Fahrrad genügt manchmal, um ein Loch in den Putz zu schlagen. Aber auch Haarrisse im Putz infolge Alterung stellen ein Risiko dar, falls es direkt vor der Fassade brennt.

Für "halbherzig und wenig praxisgerecht" hält Ulrich Ropertz vom Deutschen Mieterbund daher die Empfehlungen. "Wer kontrolliert denn die ordnungsgemäße Instandhaltung und die Lagerung bestimmter Materialien im Abstand von drei Metern?" Scheuermann erwidert: "Das müssen die Mieter mit den Eigentümern ausmachen." Ein solcher Hinweis dürfte aber die Konflikte anheizen, die die Dämmung in vielen Wohnanlagen ausgelöst hat. Oft genug haben die Bewohner trotz gestiegener Mieten nicht annähernd die angekündigten Ersparnisse bei den Heizkosten erzielt. Und nun haben sie schwarz auf weiß, dass die Dämmung zur Gefahr werden kann. Und ob aus dem Merkblatt eine rechtliche Pflicht für den Vermieter erwächst, zum Beispiel Häuschen für Mülltonnen anzuschaffen, dürfte demnächst die Gerichte beschäftigen.

Auf einen weiteren Streitgrund weist Corinna Kodim vom Verband Haus & Grund Deutschland hin: "Es dürfte einigermaßen schwierig werden, etwaige im Nachhinein geforderte ,Schutzzonen' um das Gebäude zu realisieren." Ihr Verband empfehle seinen Mitgliedern ohnehin regelmäßig, "bei einer energetischen Modernisierung der Gebäudehülle kein Dämmsystem mit Polystyrol zu verwenden".

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