Frankreich-Rundfahrt:Warum die Tour wie eine Sucht wirkt

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Volksfeststimmung auf dem Weg hinauf nach L'Alpe d'Huez

(Foto: AFP)

Die Zuschauer drängen sich an die Straßenränder, als gebe es gar kein Dopingproblem: Die Tour de France ist ein Faszinosum - nicht nur für Sportler.

Kommentar von Johannes Aumüller

In der Kurve sieben war es am schlimmsten - oder am schönsten, je nach Geschmack. In der Kurve sieben, das wissen die Kenner der Kehrenlehre von L'Alpe d'Huez, da versammeln sich jedes Mal die Holländer und veranstalten ihre ausschweifende Ganztagesparty. Ein paar Ecken weiter dominiert die Klassikerfraktion, die sich den Tag mit Rotwein, Baguette und dem Studium der L'Équipe gestaltet. Und noch weiter oben sind fast so viele unterschiedliche Fahnen zu sehen wie die Vereinten Nationen Mitglieder haben.

In Scharen wandern und radeln die Menschen hoch, irgendwann kommt die Werbekarawane und wirft wie an Fastnacht Kamelle und Accessoires - und noch später fahren die Heroen des Pelotons vorbei, so nah wie in keinem Fußballstadion dieser Welt. Und das Spektakel kostet nicht einmal Eintritt, nur viel Zeit: erst bergauf und vor allem später bergab, wenn alle die Serpentinen wieder hinunter- und durch dasselbe enge Tal zurück müssen.

Die Tour de France kann so schön und faszinierend sein. Wenn nur dieser Radsport nicht wäre.

Zweifel schwingen mit

Es ist wirklich bemerkenswert, mit welcher Standhaftigkeit und Faszination diese Frankreich-Rundfahrt nun schon im 112. Jahr existiert. Die vergangenen Dekaden haben sich als chronisch dopingverseucht herausgestellt. Für die Jahre 2013 und 2014 gab es zumindest bei der Tour keinen offiziellen Dopingfall und für 2015 bisher nur einen eher ungewöhnlichen Positivbefund auf Kokain beim Italiener Luca Paolini.

Aber wer sich mit Wissenschaftlern unterhält, deren Unbehagen ob der gezeigten Leistungen wieder wächst; wer von Anti-Doping-Experten hört, welche und wie viele großteils noch gar nicht nachweisbaren Präparate gerade im Umlauf sind; wer die vielen vorbelasteten Figuren im Umfeld der Mannschaften sieht; und wer Fälle wie den von Patrik Sinkewitz berücksichtigt, der als Kronzeuge gerne Wissen über vergangene und aktuelle Vergehen mitteilen möchte, aber von der zuständigen Kommission des Rad-Weltverbandes (UCI) nicht einmal angehört wird - der kann fast nur zu dem Schluss kommen, dass es 2015 nicht so sauber zugeht, wie es die Szene stets suggeriert.

Trotzdem sind die Straßenränder voll, nicht immer so brechend wie auf dem Weg nach L'Alpe d'Huez, aber doch mehr als ordentlich. Die Menschen dort sind nicht naiv, sie wissen um die Dopingproblematik, die einen haben mehr Glauben an eine bessere Zukunft, die anderen weniger. Aber dieses sommerliche Ferienspektakel namens Tour wirkt bei manchen wie eine unerklärliche Sucht, nicht nur bei Sportlern.

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