Zeitschriften:Die größten Hits von früher

Zuerst verschwinden die Leser, dann die Relevanz: Der "New Musical Express", einst Pflichtlektüre für Rockfans, wird zum Gratisheft.

Von Alexander Menden

Es gab Zeiten, da war der New Musical Express das, was man gemeinhin eine "Bibel" nennt - Pflichtlektüre für Leute, für die der Rock nicht einfach irgendein Musikstil, sondern eine noch nicht dem Pop-Einheitsbrei untergemischte Lebenshaltung war. Einer kaufte sich das Heft und verlieh es an mindestens zwei Kumpels. Zu seinen besten Zeiten in den Siebzigerjahren hatte der NME eine wöchentliche Auflage von 270 000 verkauften Heften, und etwa eine Million Leser.

Darüber, dass jene Zeiten unwiderruflich Geschichte sind, besteht auch für Freunde des letzten verbliebenen wöchentlich erscheinenden Musikmagazins der Insel schon lange Einigkeit. Die Leserschaft war in den vergangenen Jahren immer mehr geschrumpft. Zuletzt waren es gerade mal 15 000 - und das auch nur, weil die digitalen Leser von NME.com großzügig mitgezählt wurden. Wenn es noch eines weiteren Beweises für den Relevanzschwund dieser 63 Jahre alten Institution bedurfte, dann hat sie seine derzeitige Mutterfirma, Time Incorporated UK, jetzt geliefert: Der NME wird eine Gratiszeitschrift.

In bestem Konzernsprech wurde verkündet, das Magazin werde "seine Evolution als globales Medienprodukt fortführen, das das Publikum an die erste Stelle setzt". Musik wird zukünftig keine so wichtige Rolle mehr spielen. Die Zeitschrift soll vielmehr ein "Portal zu einer breiteren Konversation über Film, Mode, Fernsehen, Politik, Gaming und Technik" werden. Man will mehr Live-Events anbieten, verstärkt auf sozialen Netzwerken mit den Nutzern interagieren und "neue originelle sowie kuratierte Inhalte auf allen Plattformen anbieten - darunter auch Print".

Von September an wird das in eine multimediale Eier legende Wollmilchsau mutierte einstige Flaggschiff des britischen Popjournalismus also kostenlos vor U-Bahn-Stationen und Bahnhöfen Passanten in die Hand gedrückt. Anders als andere Gratisprodukte wie der Londoner Evening Standard oder das Veranstaltungsmagazin Time Out soll der NME - wegen des weiterhin erhofften jungen Zielpublikums - besonders auch vor Schulen und auf Universitäts-Campussen verteilt werden.

Zeitschriften: "Totally Cool" war einmal: Schon zur Hochzeit des Britpop erreichte der New Musical Express längst nicht mehr solche Auflagen wie in den Siebzigern.

"Totally Cool" war einmal: Schon zur Hochzeit des Britpop erreichte der New Musical Express längst nicht mehr solche Auflagen wie in den Siebzigern.

(Foto: NME)

Manche Beobachter glauben, der Niedergang von NME gehe mit der sinkenden Popularität der Art von Musik einher, die das Magazin immer besonders feierte. Doch erstens ist gitarrenlastiger Rock gerade in Großbritannien nach wie vor sehr erfolgreich. Und zweitens hielt der NME lange ganz gut mit den wechselnden Trends mit - Punk in den Siebzigern, New Wave und Rap in den Achtzigern. Ganz gleich, ob Uncut, Kerrang! oder Mojo - alle britischen Musikmagazine haben in den vergangenen Jahren mit schwindenden Leserzahlen zu kämpfen gehabt. Q, das sich lange noch recht gut behauptete, ist mit 50 000 verkauften Heften im Monat auf ein Viertel seiner Auflage aus den Neunzigern gefallen.

In Deutschland sieht die Situation kaum anders aus. Die Zahlen der Auflagen-Prüfstelle IVW zeigen, dass etwa der Musikexpress im zweiten Quartal 2015, verglichen mit dem Vorjahresquartal, 18 Prozent seiner harten Auflage verloren hat: Jetzt sind es nur noch knapp 14 000 verkaufte Exemplare. Beim Distinktionsblatt für Pop-Nerds Spex ist der Schwund noch dramatischer: IVW zählt nur noch 6700 verkaufte Hefte, ein Minus von 23 Prozent. In den Neunzigerjahren waren die Auflagen hier wie dort teils viermal so hoch.

Pläne zu einer Umsonstausgabe scheint es bei deutschen Magazinen bislang nicht zu geben - was daran liegen könnte, dass sich genau solch ein Umsonst-Musikmagazin längst auf dem hiesigen Markt etabliert hat: Intro mit monatlich 110 000 frei verteilten Heften. Die Strategie, dem Abwärtstrend entgegenzuwirken, scheint bei den Verkaufsmagazinen bislang eher zu sein, immer häufiger Konsenskünstler aufs Cover zu nehmen. Was aber, wenn man die Zahlen betrachtet, kaum Erfolg hat - beziehungsweise nach hinten losgeht: Zum Beispiel schmachtete die Band Tocotronic, als sie Anfang Mai ein neues Album herausbrachte, zeitgleich sowohl vom Spex- als auch vom Musikexpress-Cover. Selbst die hartgesottensten Fans kaufen wohl kaum zwei Hefte.

Hauptgrund für den Auflagenschwund bei den deutschen wie den englischen Titeln ist aber zweifellos, dass mit dem sich zunehmend egalitär gebenden Online-Konsum von Musik auch die Notwendigkeit von Fachblättern, die Kritiken ex cathedra verlauten lassen, vielen nicht mehr recht einleuchtet. Einblick in den Alltag von Rockstars, wie sie früher nur erwählten Journalisten gewährt wurden, liefern die Musiker heute per Youtube frei Haus - kostenlos aufs Smartphone. Die Flucht aus dem Alltag in die Glamourwelt des Pop, zu der früher nur die Magazine Zugang boten, ist leichter und billiger zu haben.

Zeitschriften: Posierte lange vor Lady Gaga auf dem Cover mit Fleisch: Sänger Dave Vanian im Jahr 1977.

Posierte lange vor Lady Gaga auf dem Cover mit Fleisch: Sänger Dave Vanian im Jahr 1977.

(Foto: NME)

Obwohl die Online-Präsenz des NME 2016 bereits ihr 20-jähriges Bestehen feiern wird, konnte NME.com in Sachen Popularität und Einfluss nie auch nur annähernd an die Bestmarken der Printausgabe anschließen. Allerdings scheint es den Entscheidungsträgern durchaus ernst zu sein mit der "Global Player"-Idee, zumindest was das Online-Geschäft angeht. Diesen Monat ging eine auf den japanischen Markt zugeschnittene Version der NME-Website online. In Kooperation mit einem Tokioter Konzertveranstalter will der NME dort Events mitorganisieren und durch eine Mischung aus Interviews mit japanischen Bands und übersetzten Clips von der Hauptseite lokale Interessen bedienen.

Das ist in publizistischer Hinsicht Lichtjahre entfernt von dem, für das der NME früher stand. Als das Magazin 1952 zum ersten Mal erschien, veröffentlichte es die ersten Pop-Charts von Großbritannien - sozusagen in Handarbeit. NME-Mitarbeiter trugen die Daten persönlich zusammen, indem sie von Plattenladen zu Plattenladen gingen. Seine Hochzeit erlebte das Heft in den Siebzigern, als Autoren wie Danny Baker und später auch Julie Burchell im Stil des amerikanischen "New Journalism" nicht selten zu Protagonisten ihrer eigenen Stücke wurden. In den Neunzigern war das Blatt publizistischer Mitgestalter einer Ära, als es wesentlich zum Erfolg des Britpop beitrug. Da war die Wochenauflage allerdings schon auf 120 000 Stück gefallen. Und heute?

"NME ist schon jetzt ein bedeutender Player und hat großen Einfluss im Musikbereich", sagt der derzeitige Chefredakteur Mike Williams. "Aber mit dieser Transformation werden wir größer, stärker und einflussreicher sein als je zuvor!" Das klingt weniger nach Rock 'n' Roll als nach Pfeifen im Walde.

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