Stürmer-Transfers in der Bundesliga:Sachverständige im Strafraum gesucht

15 07 2015 1 und 2 Fussball Bundesliga 2015 2016 Trainingslager TSV 1860 München Testspiel im St

Trägt künftig Königsblau statt Werdergrün: Mittelstürmer Franco di Santo.

(Foto: imago)
  • Die prominenten Wechsel von Franco di Santo und Kevin Kuranyi passen ins Bild: Die Bundesliga will echte Mittelstürmer.
  • Falsche Neuner scheinen eher etwas für Elitemannschaften aus Barcelona oder Bayern zu sein.

Von Christof Kneer

Man muss es nachträglich sehr bedauern, dass Ailton damals keinen offenen Brief hinterlassen hat. Hätten Fußballer damals schon getwittert, hätte Ailton bestimmt einen rührenden Beitrag abgesetzt, und mit etwas Glück wäre dessen literarische Qualität an die Qualität der bis heute unerreichten Ailton-Originale herangekommen. Eine winzige Auswahl: "In ganze Karrier immer gewinne, auch wenn verlier." - "Champagne, Wasser, Bier brasilian. Müsse heute alles. Alle." - Oder, der ewige Favorit: "In Momento Werde Breme bisschen guck."

Es klang für einen Moment nach Ailton, was am Wochenende als offener Brief in den sozialen Netzwerken kursierte, aber leider nur für einen kleinen Moment: "Liebes Werder Bremen", begann ein Beitrag, der dann doch nicht halten konnte, was er versprach. Er war von irgendwelchen PR-Assistenten leider in korrektes Deutsch übersetzt worden. Heute sei "kein einfacher Tag für mich", teilte der Brieffreund gleich zu Anfang mit, aber er habe "privat und beruflich die Entscheidung getroffen, eine neue und attraktive Herausforderung anzunehmen". Dennoch wolle er den Fans "gern sagen: Ich habe euch geliebt, ich liebe euch und werde euch immer lieben".

Gezeichnet war der Brief mit: Euer Franco. Franco di Santo, 26, wechselt von Werder Bremen zu Schalke 04. Wie der große Ailton damals, im Sommer 2004.

Der überfallartige Abschied des argentinischen Stürmers war die eine große Transferneuigkeit des Wochenendes, und sie passte wie abgesprochen zur zweiten großen Wechselnachricht: Kevin Kuranyi, 33, hat sich der TSG Hoffenheim angeschlossen, ebenfalls unter Zuhilfenahme der sozialen Netzwerke. Er spüre "schon das Kribbeln, bald wieder angreifen zu können", schrieb Kuranyi auf seiner Internetseite; das Gefühl, nach fünf Jahren bei Dynamo Moskau "wieder zu Hause zu sein, ist überragend". Unter diesem schönen Sätzlein gab's dann ein Kuranyi-Selfie zu sehen, mitsamt breitem Grinsen.

Die Bremer Anhänger träumen von Claudio Pizarro

Es gibt zwei Erzählebenen, auf denen sich die beiden prominenten Personalien verhandeln lassen, und vor allem im Fall di Santo ist die erste Ebene - die tagesaktuelle, vereinspolitische - schon aufregend genug. Die Bremer Fan-Seelen mögen es gar nicht, wenn die Schalker ihnen Spieler entwenden, die Fans haben die Fälle Ailton und Krstajic nicht vergessen; die Bremer Verantwortlichen hatten am Wochenende aber weder Zeit noch Lust, den Ligarivalen zu beschuldigen. Sie waren vollauf damit beschäftigt, eine Sprachregelung zu finden, die den Spieler und dessen Management be- und gleichzeitig entlastet.

Dieser Transfer komme "sehr, sehr kurzfristig", sagte Werder-Sportchef Thomas Eichin, "von diesem Verhalten bin ich alles andere als begeistert." Gleichzeitig könne er dem Profi aber nicht vorwerfen, dass er eine Ausstiegsklausel nutze, die Werder ihm selbst in den Vertrag geschrieben hat; umgekehrt hatte Werder kürzlich eine ähnliche Sondervereinbarung genutzt, um Köln den Stürmer Ujah abzujagen. Di Santos Sechs-Millionen-Klausel wäre Ende Juli erloschen - weshalb die Bremer nicht völlig überrumpelt gewesen sein dürften, auch wenn di Santo zuletzt mit Werder-freundlichen Sätzen aufgefallen war, von denen sich die Bremer vielleicht ein bisschen zu gern haben täuschen lassen.

Warum es falsche Neuner nur in den Elfenbeintürmen gibt

Der Manager Eichin befindet sich nun "im Umschaltmodus", wie er sagt. Bis eben hat er noch versucht, di Santo in der Stadt zu halten, und jetzt muss er versuchen, in dieselbe Stadt einen Nachfolger zu holen. Die Fans träumen von Claudio Pizarro, aber Eichin macht ihnen keine große Hoffnungen. "60 bis 70 Stürmer" seien ihm angeboten worden, sagt er, was vermutlich bedeutet, dass ihm fahrende Händler auch Kandidaten aus San Marino, der Landesliga oder vom HSV unterjubeln wollen. Dieser Kandidaten-Überschuss passt perfekt zur zweiten Erzählebene des Transfer-Wochenendes. Die Namen di Santo und Kuranyi belegen, dass Mittelstürmer nach wie vor die heißeste Ware auf dem Markt sind.

Die Mannschaft sei von di Santos Abschied "geschockt", hat Eichin am Sonntag noch berichtet, Spieler wissen natürlich, was das bedeutet: wenn ihnen plötzlich der Kollege fehlt, der immer die Tore schießt. In den Elitemannschaften aus Barcelona oder Bayern mögen sie in ihren Elfenbeintürmen gerne darüber diskutieren, ob man sich noch echte Neuner halten muss oder ob man sich die Tore nicht lieber von anderen Weltklassespielern schießen lassen soll.

Aber es ist nicht mehr zu übersehen, dass unterhalb der Weltklasse von diesem Luxustrend nicht viel angekommen ist. Werder will nicht mit einem falschen Neuner spielen. Schalke 04 will das auch nicht, deshalb haben sie ihrem Mittelstürmer Huntelaar noch den Mittelstürmer di Santo an die Seite gekauft. Und in Hoffenheim haben sie sich sogar noch einen dritten Sturmklassiker geleistet; der gute, alte Kuranyi soll Adam Szalai und den ebenfalls neuen Mark Uth unterstützen, antreiben oder gerne auch verdrängen.

Die Bundesliga hat in diesem Sommer sehr nachdrücklich Mittelstürmer eingekauft, es hat sich inzwischen herumgesprochen, dass ein Sachverständiger im Strafraum in dieser engen Liga den Unterschied zwischen Platz sieben und siebzehn ausmachen kann. Die Freiburger zum Beispiel sind wahrscheinlich auch deshalb abgestiegen, weil sie den Stürmer Nils Petersen zu selten zur Verfügung hatten. Und die Bremer zum Beispiel dürften sich jetzt ärgern, weil sie den bisher nur verliehenen Petersen den Freiburgern verkauft haben. Sie könnten ihn jetzt als Nachfolger für di Santo nicht schlecht gebrauchen.

Was dieser di Santo allerdings wissen sollte: Ailton blieb nach seinem Wechsel von Bremen nach Schalke nur ein Jahr. Seine Vereine danach (eine winzige Auswahl): Besiktas Istanbul, Hamburger SV, Roter Stern Belgrad, Grashoppers Zürich, MSV Duisburg, Metalurg Donezk, SCR Altach, Campinense Clube, Chongqing Lifan, KFC Uerdingen, FC Oberneuland, Rio Branco EC und Hassia Bingen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: