Yeldeğirmeni in Istanbul:Wo das Leben blubbert

Yeldeğirmeni galt als das Problemviertel Istanbuls: Das Leben war rau und gefährlich. Heute wohnen hier Künstler und Gezi-Aktivisten und setzen auf Harmonie. Ein Besuch.

Von Luisa Seeling

Die Sache mit der Bio-Sahne fällt Saliha Yavuz als Erstes ein. "Früher gab es in dem Lebensmittelgeschäft um die Ecke ganz normale Sahne", sagt die 32-jährige Kunst-Managerin, die hier lebt und Besucher herumführt, "eines Tages hält mir der Besitzer Bio-Sahne unter die Nase - viel teurer, natürlich." Die zierliche Frau mit dem Pferdeschwanz kann viele Geschichten erzählen vom Wandel in Yeldeğirmeni, einem kleinen, nur 16 000 Einwohner zählenden Stadtviertel auf der asiatischen Seite Istanbuls. Cafés, in denen neuerdings Vegetarisches und Veganes auf der Speisekarte steht. Studenten, die bereit sind, 500 Euro Monatsmiete für ein Zimmer auszugeben. "Plötzlich waren überall Erasmus-Studenten", sagt Yavuz und gibt verschämt zu, dass sie einmal die Polizei gerufen hat, als sie die nächtliche Feierei nicht mehr ausgehalten hat. "So bin ich sonst nicht!"

Erstaunt schaut man sich um. Still liegt die schmale Straße in der Sonne. Das hier soll ein Stadtteil sein, in dem die Mieten steigen, Alteingesessene verdrängt werden und Feierwütige die Nacht zum Tag machen? Auf den ersten Blick hat die Szene fast etwas Dörfliches. Vor einer Bäckerei stehen zwei alte Frauen und plaudern. Ein Mann zieht eine Holzkarre mit Metallschrott über das Pflaster. Der Hafen, das pulsierende Herz von Kadıköy, ist nur wenige Straßen entfernt. Den ganzen Tag strömen dort Passagiere von den Bosporus-Fähren, eilen zu Fuß weiter oder steigen in Dolmuş-Taxis, die sofort im Stau stecken bleiben. Schuhputzer und Sesamkringel-Verkäufer schreien um die Wette, auf fahrbaren Grillwagen zischen die Maiskolben. Gemessen daran ist Yeldeğirmeni eine Oase der Ruhe. Hier brodelt das Stadtleben nicht, es blubbert vor sich hin.

Studenten, Geschäftsleute, Frauen mit Kopftuch - alle dürfen hier offen sprechen

In den Straßen des Viertels findet man alte Handwerksbetriebe, Eckgeschäfte und traditionelle Kaffeehäuser, auch Spuren des Vielvölkergemischs, das Yeldeğirmeni einst prägte. Im Osmanischen Reich lebten hier Muslime und Juden, Armenier und Griechen Haus an Haus. Es gibt eine Moschee, eine Synagoge und eine Kirche, die Église Notre Dame du Rosaire, 1895 von französischen Christen erbaut. Nach dem Erdbeben von 1999 stand sie leer und verfiel. 2010 kaufte der Bezirk Kadıköy, zu dem Yeldeğirmeni offiziell gehört, das Gotteshaus und machte ein Kultur- und Veranstaltungszentrum daraus.

Viele Gebäude in Yeldeğirmeni stammen vom Anfang des 20. Jahrhunderts, als deutsche Ingenieure und Architekten am Hafen von Kadıköy den berühmten Bahnhof Haydarpaşa errichteten. Mit ihren Familien wohnten Bauherren und Arbeiter in den ersten Mehrfamilienhäusern Istanbuls. Heute stehen viele dieser historischen Apartmenthäuser leer, andere verfallen. Einige wurden im Zuge eines großen Renovierungsprojekts instandgesetzt. Ganz verschwunden sind hingegen die Windmühlen, denen Yeldeğirmeni seinen Namen verdankt. Sie belieferten die osmanische Armee mit Mehl. Noch immer gibt es in Yeldeğirmeni viele Bäckereien.

Saliha Yavuz lebt seit fünf Jahren hier, ihr Schimpfen auf die Neuzugezogenen ist nicht ganz ernst gemeint. Sie gehört ja selbst zu denen, die den Wandel vorantreiben. Yavuz hat an einer Istanbuler Uni Kunst-Management studiert, in diversen Galerien gearbeitet und die Agentur Artwalk Istanbul gegründet, die Führungen durch die Kunst- und Designszene von Taksim und Kadıköy anbietet. Yavuz verdient Geld mit der neuen Anziehungskraft des Viertels, doch sie sagt auch: "Vielen, vor allem älteren Bewohnern gehen die Veränderungen zu schnell." Auf ihren Stadtführungen wirft sie darum immer auch die Frage auf: Lässt sich der Wandel so gestalten, dass alle eingebunden werden?

Onur Atay vom Design-Atelier TAK gehört zu denen, die das versuchen. Der 28-Jährige sieht genau so aus, wie man sich einen Architekten vorstellt, der sich für sozialverträgliche Stadtentwicklung einsetzt: Bart, T-Shirt, Sneakers, ein freundliches, waches Gesicht. Besucher führt er in die moderne Veranstaltungshalle des TAK. Dort hängen zwei Fotos: Das eine zeigt das Haus vor, das andere nach der Sanierung im Jahr 2013. "Um die Jahrhundertwende war hier ein altes Kino untergebracht", erzählt er. Vor dem Ersten Weltkrieg war es in armenischer Hand, später in türkischer; nach seiner endgültigen Schließung in den Siebzigerjahren stand es leer. Und verfiel, wie so vieles hier.

Reise

"In den Achtzigern und Neunzigern haben die Menschen diese Gegend Texas genannt, wegen der Schießereien auf offener Straße", erzählt Atay. Messerstechereien, Prostitution und Drogen waren an der Tagesordnung. Ein raues Pflaster. Entsprechend niedrig waren die Mieten. Davon angelockt, siedelten sich immer mehr Künstler an. Inzwischen gibt es Atay zufolge mehr als 70 Ateliers: Designer, Maler, Bildhauer, Töpfer. 2012 fand in Yeldeğirmeni das erste Istanbuler Street-Art-Festival statt. Die oft mehrere Stockwerke hohen Gemälde sind immer noch an vielen Hauswänden zu sehen. Manche sind später neu dazugekommen.

"Wir wollten hier etwas Neues machen"

Zu den Sehenswürdigkeiten gehört auch das Don Kişot Solidarity House. Eigentlich kaum mehr als ein Rohbau mit bemalter Fassade, ist es in Kadıköy zum Symbol für die Gezi-Bewegung geworden. Im Sommer 2013, als sich auf dem Taksim-Platz auf der europäischen Seite Demonstranten und Wasserwerfer gegenüberstanden, besetzten Aktivisten das Gebäude. Sie durften bleiben. Weil nicht klar ist, wem das Haus eigentlich gehört - ein komplizierter Rechtsstreit zieht sich seit vielen Jahren hin. Aber auch, weil die Bezirksverwaltung von Kadıköy, seit Urzeiten in den Händen der säkular-kemalistischen CHP, das Don Kişot duldet.

Das TAK, in dem Onur Atay arbeitet, wird sogar von der Stadt mitfinanziert: Sie zahlt die Betriebskosten für das Gebäude und Gehälter für fünf Mitarbeiter. Ein privater Träger übernimmt die übrigen Kosten. Atay beschreibt TAK als eine Plattform, die jeder nutzen kann, der sich in die Stadtteilentwicklung einbringen will. "Wir wollen hier Projekte ermöglichen, die das Viertel lebenswerter machen", sagt er, gemeint ist vor allem: die das Alte mit dem Neuen versöhnen. Das kann eine Gruppe von Frauen sein, die T-Shirts bedrucken will, ein Straßenfest, eine Ausstellung. Das TAK will Menschen zusammenbringen - und so helfen, die Konflikte abzufedern, die mit dem Strukturwandel entstehen.

Manchmal ist dazu ein großer Stuhlkreis nötig. Als es Streit gab zwischen Gastronomen und Anwohnern, die sich über Lärm und nächtliche Randale beschwerten, lud TAK zu einem Treffen ein. Es gibt Fotos davon: Wirte, Studenten, Anwohner, auch ein paar alte Frauen mit Kopftuch, sie alle sitzen im Kreis. "Die Regel war: Jeder darf seinen Standpunkt erklären, und wenn einer redet, müssen die anderen zuhören", sagt Atay. Am Ende dieses Prozesses standen ein paar praktische Beschlüsse wie etwa das Aufstellen von Straßenlaternen und Hinweisschildern. "Aber das Wichtigste war, dass alle mal miteinander reden konnten", sagt Atay.

Ein Café mit Selbstbedienung und Kunst im Raum? So etwas kannten die Leute nicht

In einem Café ein paar Straßen weiter duftet es nach frischem Gebäck. Das Art Here Istanbul hat den Charme des Improvisierten. In der offenen Küche müssen sich die Gäste ihren Kaffee selbst abholen, "self servis" steht in verschnörkelten Lettern auf einem Zettel. An den Wänden hängen Zeichnungen, Aquarelle und Fotografien. Ein Schild ermuntert kaufwillige Gäste, die Künstler direkt anzusprechen. "Wir wollten hier etwas Neues machen", sagt Omar Berakdar, der das Café vor zwei Jahren eröffnet hat. "Keine Galerie, sondern ein Café, in dem Kunst ausgestellt wird. Und in dem Künstler arbeiten können." Omar Berakdar ist Syrer. 2012 floh der 50-Jährige vor dem Bürgerkrieg in seiner Heimat in die Türkei. "Meine Frau und ich dachten, wir bleiben ein paar Monate, dann kehren wir zurück. Aber jetzt sind wir immer noch da, kein Ende in Sicht." Berakdar ist Fotograf, einige seiner Bilder hängen an den Wänden des Cafés. Schwarz-Weiß-Aufnahmen einer verlassenen Streichholzfabrik in Syrien, die gebaut wurde, als Hafis al-Assad, Baschars Vater, in den Siebzigern an die Macht kam. Inzwischen wurde sie bei Kämpfen zwischen Rebellen und Armee fast vollständig zerstört.

Mit Art Here hat sich Omar Berakdar eine neue Existenz aufgebaut. "Ich gehöre zu den Privilegierten", sagt er. "Ich musste nicht als mittelloser Flüchtling herkommen, sondern hatte in Yeldeğirmeni eine Wohnung." 2008 hatte er sie gekauft, ohne zu ahnen, wie sich das Viertel entwickeln würde. "Damals war die Gegend noch recht trostlos", erinnert er sich, "aber ich hatte Freunde in Yeldeğirmeni, deshalb habe ich jetzt hier eine Immobilie." Als er vor zwei Jahren das Café eröffnete, musste er zunächst kämpfen, die Kundschaft blieb aus. "Die Leute waren nur traditionelle Kaffeehäuser oder Starbucks-Verschnitte gewöhnt", meint er.

Inzwischen läuft der Laden, Berakdar sagt, er habe treue Stammgäste. Der Übergang von Gast zu Kellner zu Künstler ist hier ohnehin fließend. Es kommt vor, dass ein Gast aufsteht, einem anderen Gast einen Kaffee bringt und dann hochgeht ins Atelier. Berakdar bietet auch einen Schlafplatz an, "für Neuankömmlinge, die erst mal irgendwo unterkommen müssen". Vor allem für Künstler aus Syrien ist Art Here zur Anlaufstelle geworden. Politische Arbeit sei das aber nicht, betont Omar Berakdar. "Wir sind nicht kapitalistisch, wir sind nicht kommunistisch." Er wolle einfach nur Kunst machen. Und backen, natürlich. Ganz in der Tradition von Yeldeğirmeni.

Info

Übernachtung: Rıhtım Otel, an der Hafenstraße mit Blick auf Haydarpaşa, DZ/F. ab 70 Euro, www.rihtimotel.com; Hush Lounge Hostel, Bett im Mehrbettzimmer ab 15 Euro/F., DZ/F. 52 Euro, www.hushhostelistanbul.com; oder auf der anderen Bosporus-Seite z.B. www.manzara-apartments.com/apartments.

Essen: z. B. im Komşu Kafe (türkische, internationale und vegetarische Küche), Uzun Hafız Sokak 83/A. Café-Kollektiv, das sich nach den Gezi-Protesten gegründet hat. Auf Facebook: Komşu Kafe Collective.

Weitere Auskünfte: Kaffee und Kunst im Art Here Istanbul: Ferit Bey Sokak, Rasimpaşa Mahalle, info@arthereistanbul.com; ArtWalk Istanbul, Stadtführungen durch die Kunstszene von Kadıköy und Taksim, ca. 25 Euro, auch private Touren, www.artwalkistanbul.com

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: