"Empty-Nest-Syndrom":Kinder weg, Krise da

Wenn der Nachwuchs auszieht, haben Eltern endlich Ruhe und Zeit für sich. Für viele ist das allerdings der blanke Horror.

Von Titus Arnu

Nackt, blind, taub - so werden Mäuse geboren. Zwei Wochen nach der Geburt öffnen sie die Augen, drei Wochen lang werden sie gesäugt, bald können sie "Piep" sagen, ohne jemals eine Schule besucht zu haben. Kindheit und Pubertät sind innerhalb von weiteren zwei Wochen abgeschlossen. Im Alter von sechs Wochen ist das Nagetier geschlechtsreif, und dann ist die Maus aus dem Haus.

Wie viel mühsamer und langwieriger ist doch dieser Prozess beim Menschen. Die Augen öffnet er zwar schon gleich nach der Geburt, dann aber dauert es ein, zwei Jahre, bis er auf zwei Beinen laufen kann; weitere Monate und Jahre vergehen, bis er "Dada" und später "endsgeil" sagen kann. Je nach Schulerfolg und Zielstrebigkeit verbringt der Jugendliche 17 bis 27 Jahre in seinem Nest, liebevoll versorgt von den fleißigen Eltern, die nur das Beste dafür tun wollen, damit ihre Brut irgendwann einmal alleine lebensfähig ist.

Endlich wieder zu zweit? Von wegen

Nach circa zwei Jahrzehnten ist es dann also endlich so weit. Der Mensch hört offiziell auf, ein Kind zu sein, packt seine Sachen in ein paar Kisten - und zieht aus dem Elternhaus aus. Dass man Kinder nicht kriegt, um sie für immer bei sich zu behalten, sondern um sie eines Tages in ihr eigenes Leben zu entlassen, ist wahrscheinlich den meisten Eltern klar. Es ist ein lange vorher absehbares Ereignis, aber wenn es dann tatsächlich so weit ist - dann erleben es viele Eltern dennoch als Schock.

"Es ist normal, dass Kinder ihre Eltern verlassen, aber das heißt nicht, dass es nicht wehtun darf", sagt die Schweizer Psychotherapeutin Verena Kast, die mehrere Bücher zum Thema verfasst hat.

Sogar die laute Musik vermisst man jetzt

Neue Freiheit, endlich wieder Zweisamkeit, mehr Lebensfreude? Von wegen. Viele Eltern durchleben eine Sinnkrise, wenn der Nachwuchs das Haus verlässt. "Empty-Nest-Syndrom" nennen Wissenschaftler das Phänomen, der Begriff wurde in den 1960er-Jahren von amerikanischen Soziologen geprägt. Wenn die Kinder flügge werden, gerät die Partnerschaft leicht in die Krise, so das Fazit einer repräsentativen Umfrage der Universität Heidelberg. Besonders viele Ehepaare lassen sich scheiden, wenn die Kinder erwachsen werden. Das klingt zunächst paradox, denn eigentlich könnten die Eltern ja stolz und glücklich sein in so einem Moment, schließlich ist eine wichtige Lebensphase geschafft. Aber die Gefühle der Eltern sind eben genauso widersprüchlich wie die der Kinder, die einerseits ein eigenes Leben beginnen, andererseits ihr behütetes Heim verlassen.

Einerseits geht ein Lebensabschnitt zu Ende. Andererseits merkt man genau daran, wie alt man geworden ist. Einerseits: Auf herumliegende nasse Handtücher auf dem Boden, unaufgeräumte Kinderzimmer, nervige Verhandlungen über Ausgehzeiten kann man ja gerne verzichten. Andererseits fehlt einem auch viel: Gespräche am Küchentisch, zusammengekuschelt auf dem Sofa einen Film anschauen, Reisepläne schmieden. Sogar den Trubel, die laute Musik, insgesamt das wunderbar chaotische Leben dieser Jugendlichen vermisst man. Das Haus ist stiller, aufgeräumter - und nicht mehr so lebendig.

"Besonders Frauen haben es schwer"

"Besonders Frauen haben es schwer, den Übergang von der aktiven zur passiven Mutterschaft zu bewältigen", sagt Bettina Teubert, Familientherapeutin und selbst Mutter zweier erwachsener Kinder. Sie hat in Berlin Deutschlands erste Selbsthilfegruppe für verlassene Mütter ins Leben gerufen, die Empty Nest Moms (Enmoms). Über ihre Website bekommt sie 40 bis 50 Anfragen pro Woche von Frauen aus ganz Deutschland. Der Beratungsbedarf ist offenbar hoch.

Für die meisten Frauen ist es eine schwere Übergangszeit in mehrfacher Hinsicht: Abschied von den Kindern, Wechseljahre - und dann noch die Frage, wie man die nächsten 15 bis 20 Jahre im Berufsleben bis zum Ruhestand eigentlich positiv gestalten soll. Das Empty-Nest ist ja keine Krankheit, sondern Folge eines ganz normales Lebensereignis mit positiven und negativen Seiten, aber trotzdem sprechen Betroffene manchmal von "Depression" und "Trauerarbeit".

Nach der Trauer kommen die "Projekte"

Bettina Teubert kennt das Empty-Nest-Syndrom aus eigener Erfahrung. Ihre Tochter zog vor vier Jahren, der Sohn vor drei Jahren aus. Nach einer intensiven Trauerphase habe sie es geschafft, eine neue, erwachsenere Beziehung zu ihren Kindern aufzubauen, sagt sie. "Es ist wichtig, diese Trauer zuzulassen", rät sie, "aber nur bis zu einem bestimmten Grad." Wenn es zu Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit und anderen körperlichen Symptomen kommt, könne das auch ein Zeichen dafür sein, dass die Trauer zu einer ernsthaften Depression wird.

Wenn die erste Trauer überwunden ist, beginnen viele Eltern, die Leere mit Projekten zu füllen. Das ehemalige Kinderzimmer wird zum Musikzimmer umgebaut, Küche und Wohnzimmer werden luxussaniert. Frauenzeitschriften raten gerne dazu, sich in dieser Lebensphase "neu zu erfinden", aber wer kann und will sich mit 50 schon komplett in eine andere Person verwandeln? Klar, man hat mehr Zeit, endlich mal einen Sprachkurs zu machen, nach Nepal zu reisen oder Kunstmuseen zu besuchen, aber das täuscht kaum über die Tatsache hinweg, dass sich ein Mensch nicht neu erfinden kann, ohne ganz viel auszublenden.

Und dann? "Dann merken viele Paare, dass sie sich jetzt wieder mal miteinander beschäftigen könnten", sagt Bettina Teubert. Was gar nicht so einfach ist, wie es scheint. Denn nach 20 Jahren Konzentration auf die Kindererziehung stellen viele Paare fest, dass dieser Mensch, der da seit Jahren auf dem Sofa sitzt, vielleicht gar nicht mehr so spannend ist wie in grauer Vorzeit, als die Kinder noch nicht da waren. Es ist fast so, als würde man sich als Paar neu kennenlernen. Das kann schön sein. Oder enttäuschend.

Viele schauen ihren Partner an und fragen: Wer ist das?

In der Selbsthilfegruppe von Bettina Teubert erzählen viele Frauen, dass ihnen der Mann, mit dem zusammen sie all die Jahre Kinder großgezogen haben, plötzlich fremd vorkommt. Sehr viele Paare trennen sich in dieser Phase, meistens einvernehmlich. Trotz allem scheinen Kinder insgesamt stabilisierend auf die Ehe zu wirken, wie die Studie der Uni Heidelberg feststellt. Wer die kritische Phase im leeren Nest gemeinsam übersteht, hat sogar Chancen auf eine bessere Partnerschaft.

Und noch ein Trost: Ganz loslassen wollen Kinder und Eltern einander meistens auch nicht. Eltern bleiben immer Eltern, Kinder immer Kinder. Die Beziehung ändert sich, Freundschaft ist das Ziel. Man bleibt sich nahe, auch wenn man sich räumlich trennt. Eltern und Kinder sind auf Facebook befreundet, tägliche Telefonate zwischen Müttern und Töchtern sind keine Ausnahme, und wenn die Familie über eine Whatsapp-Gruppe kommuniziert, hat man oft das Gefühl, mehr voneinander zu erfahren als früher. Die digitalen Medien sind hilfreich dabei, die Eltern-Kind-Beziehung auf ein neues Level zu heben. Wenn die Tochter per Whatsapp schreibt: "Wäre jetzt gerne bei euch, Bussi!", dann ist der Trennungsschmerz schon nicht mehr ganz so schlimm.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: