Demokratie:Wer Institutionen zerstört, spielt mit der Freiheit

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Zwar lösten die Gezi-Proteste in der Türkei eine ungeahnte Welle der Mobilisierung aus. Ihre Ziele erreichten sie jedoch nicht. (Foto: AFP)

Das Internet kann echte Teilhabe nicht ersetzen. Demokratie braucht starke Institutionen, um den Einzelnen zu schützen. Überkontrolle droht von anderer Seite.

Ein Gastbeitrag von Michael Meyer-Resende

Demokratiekritik gehört zur Demokratie wie Wahlen und Parlamente. Sie kann positiv wirken, wenn sie dem System ermöglicht, sich weiterzuentwickeln. Sie wirkt zerstörerisch, wenn sie latentes Unbehagen an der offenen Gesellschaft in Pseudo-Ideologie ertränkt. Die Brutalkritik der Extremen nutzt die Sprache der Verrohung, die aus den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts vertraut ist. Medien werden zur "Lügenpresse" und Parlamente zu "Quatschbuden".

Weniger vertraut, aber nicht weniger gefährlich ist die modernistisch daherkommende Ablehnung von "Institutionen", wie sie neulich Ethan Zuckerman auf diesen Seiten dargelegt hat (SZ vom 22. Juli).

Fehlendes Vertrauen in Institutionen
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Ein Gastbeitrag von Ethan Zuckerman

Sie ist gefährlich, weil sie Unterstützung bei einer ganz anderen Klientel sucht, einer, auf die jede Demokratie in Zukunft angewiesen sein wird: weltoffene, netzaffine Menschen, die die Zukunft der Demokratie in der direkten Vernetzung der Basis sehen und klassische staatliche Institutionen als Anachronismus begreifen. Wer braucht eine Parlamentsdebatte, wenn alle alles im Netz diskutieren können?

Von den Parlamenten und Regierungen bis zur Fifa und der katholischen Kirche: Da alle diese Institutionen Vertrauen verloren haben, würden sie irrelevant, so Zuckerman. Den mühsamen Gang durch die Institutionen, wie ihn die 68er-Generation gegangen ist, kann man sich in Zukunft sparen.

Laut Zuckerman steht die Welt an einem "Wendepunkt". Da ist etwas dran. Die Welt ist in Aufruhr, manche sprechen vom "Age of Riots". Soziale Mobilisierung ist schneller und effektiver als in der Vor-Internet-Zeit. Die Frage ist allerdings, was all diese Aufstände bewirkt haben.

Auf dem Tahrir-Platz in Kairo wähnten sich die Menschen im Februar 2011 fast allmächtig, nachdem sie Mubarak zum Rücktritt gezwungen hatten. Aber sie hatten kein Konzept für den Tag danach, es fehlte an so Naheliegendem wie an einer klaren Forderung nach einer zivilen Übergangsregierung.

Das Militär regierte einfach weiter, dann die Moslembrüder, schließlich wieder das Militär. Die Tahrir-Revolutionäre gingen immer wieder auf die Straße, aber irgendwann war ihre Energie aufgebraucht und die Polizei wieder da. Die alten Institutionen schlugen zurück.

Und was hat die Occupy-Bewegung bewirkt? Dass die Bankenaufsicht verschärft wurde, ist viel mehr der Verdienst von Mitgliedern des Europaparlaments, die sich mit auf den ersten Blick langweiligen Dingen wie dem Basel-III-Abkommen befassen.

Auch die Gezi-Proteste in der Türkei lösten eine ungeahnte Welle der Mobilisierung aus, ihre Ziele erreichten sie nicht. Eine Aktivistin, Zeynep Tufekci, schreibt: "Die Gezi-Aktivisten hatten eine tiefe Sehnsucht nach Veränderung, aber kein Vertrauen, dass existierende Institutionen diese hervorbringen würden."

Michael Meyer-Resende (Foto: oh)

Aber dann stellten sie fest, dass sie durch die Teilnahme am Wahlkampf mehr gewinnen könnten als auf der Straße. Tatsächlich verlor Erdoğans AKP bei den Wahlen im Juni die absolute Mehrheit. Tufekci folgert: "Proteste bringen Ablehnung machtvoll zum Ausdruck, aber sie haben nicht die Macht einer demokratischen Abstimmung."

Die Kraft von Institutionen macht Proteste nicht überflüssig. Sie bleiben für eine funktionierende Demokratie essenziell. Sie können gesellschaftliche Prozesse anstoßen: Die Mobilisierung für die Parlamentswahlen in der Türkei ist auch auf Gezi zurückzuführen, und Occupy hat den öffentlichen Druck für mehr Reformen erhöht. Aber Rebellionen, die jeden Bezug zu Institutionen ablehnen, werden zu Luftnummern. Jean Monnet, einer der Gründungsväter der Europäischen Union, hat einmal gesagt: "Ohne Menschen gibt es keinen Wandel, und ohne Institutionen ist Wandel nicht von Dauer."

Die Fifa mag man nicht verteidigen, aber von der Fifa auf demokratische Institutionen zu schließen, ist unseriös. Demokratische Einrichtungen sichern ein Maß an Gleichheit und Selbstbestimmtheit des Einzelnen, wie es zufällige Mehrheiten im Netz kaum können. Die Netz-Ideologen mögen sich mächtig fühlen, aber wie viel Macht haben sie wirklich gegenüber globalen Banken oder IT-Konzernen?

Google fürchtet sich erheblich weniger vor Netzaktivisten als vor der Europäischen Kommission, die versucht, Marktkonzentration zu unterbinden. Die Banken geben Unsummen aus, um das Europäische Parlament davon abzuhalten, ihre Macht zu beschneiden. Klassische Institutionen sind noch längst nicht am Ende.

Staaten müssen Macht haben. Nur so können sie uns vor den Gefahren der Netzwelt schützen

Demokratie braucht starke Institutionen, damit nicht jeder Einzelne der Macht des globalen Kapitalismus alleine gegenüber stehen muss. Staatliche Machtlosigkeit sollte beängstigen. Denn Staaten müssen mit ausreichender Machtfülle ausgestattet sein, um jeden Einzelnen vor den Bedrohungen der Netzwelt zu schützen. Die Überkontrolle droht von Privaten, die keiner demokratischen Kontrolle unterliegen. Bestes Beispiel ist die aktuelle Kontroverse über die Funktion "Your Timeline" auf Google Maps: Google weiß auf die Minute und auf die Straße genau, wo der Nutzer in den letzten Monaten war. Ohne gesetzliche Vorschriften oder den Druck durch die Möglichkeit der Gesetzgebung hätten wir keine Handhabe gegen das Datensammeln von Google und anderen Firmen.

Der demokratische Staat ist nicht perfekt. Mangelhafte Bankenaufsicht, fehlende Kontrolle der Geheimdienste, vor allem beim Zugriff auf unsere Daten, sowie der Einfluss des Geldes auf demokratische Prozesse - es liegt vieles im Argen. Die Frage, wie Demokratie in einer globalisierten Welt funktioniert, ist ungelöst.

Aber die Antwort kann nicht sein, die Demokratie aus falschem Fortschrittsglauben heraus unter Beschuss zu nehmen. Ein jede Institutionen ablehnender Tabula-rasa-Idealismus ist weltfremd und machtblind. Die Antwort auf die Frage nach Demokratie in der Internet-Ära ist, demokratische Institutionen zu stärken, sie transparenter zu machen und sie zur Rechenschaft zu ziehen. Das wird nur gelingen, wenn Protestierende die Geduld aufbringen, Institutionen zu reformieren und sich einzubringen. Wer Institutionen zerstören will, bevor funktionsfähige Alternativen bestehen, spielt mit der Freiheit. Zerstören geht schnell - ob der Wiederaufbau gelingen könnte, steht in den Sternen.

Fehlendes Vertrauen in Institutionen
:Spaß am Zerstören

Die Jugend geht nicht mehr wählen. Sollte man sie deshalb kritisieren? Nein. Es ist an der Zeit zu feiern, wie Institutionsverweigerer versuchen, die Welt zu verändern.

Ein Gastbeitrag von Ethan Zuckerman

Michael Meyer-Resende ist Verfassungsrechtler und Geschäftsführer der in Berlin ansässigen NGO Democracy Reporting International.

Anmerkung: In einer früheren Version des Textes hieß es, damit Google es zulasse die Funktion "Your Timeline" abzuschalten, bedürfe es des Zwangs staatlicher Institutionen. Tatsächlich können Nutzer diese Funktion eigenständig abschalten.

© SZ vom 31.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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