Freiwasserschwimmen:Muttis 20. Medaille

Angela Maurer ist 40 Jahre alt, ihr Sohn ist zehn und trotzdem schwimmt sie über 25 Kilometer zu Bronze und vergießt Freudentränen. Nur zu den Olympischen Spielen wird sie es nicht mehr schaffen.

Von Claudio Catuogno, Kasan

Sie nennen sie "Mutti". Und wenn man es genau bedenkt, dann gibt es zur berühmtesten "Mutti" des Landes durchaus ein paar Parallelen. Auch Angela Maurer braucht ja eine Menge Durchhaltevermögen, sie ist eine Meisterin im Taktieren, sie versteht es, sich lange im Hintergrund zu halten, sich von den anderen mitziehen zu lassen, ehe sie schließlich selbst das Heft in die Hand nimmt. Und wenn ihr jemand in die Quere kommt, muss sie ihn wegbeißen. Nicht im wörtlichen Sinne natürlich. Ein Schlag in die Rippen oder ein Tritt mit der Ferse tun es ja auch.

Doch vor allem nennen sie Angela Maurer "Mutti" beim Deutschen Schwimm-Verband, weil sie so fürsorglich ist. Weil man sie gerne um sich hat, weil sie außerhalb des Wassers so eine Ruhe ausstrahlt in der Aufgeregtheit einer Weltmeisterschafts-Woche, weil sie selbst zu den Konkurrentinnen im Team so wahnsinnig nett ist. "Ich hoffe, dass sie noch lange dabei bleibt", sagte der Chef-Bundestrainer Henning Lambertz gerade bei der WM im russischen Kasan. Das allerdings darf man bezweifeln. "Mutti" Angela Merkel mag mit 61 Jahren eine vergleichsweise junge Regierungschefin sein. "Mutti" Angela Maurer ist mit 40 Jahren definitiv eine sehr alte Leistungssportlerin.

Maurer dachte erst, sie wäre Vierte

Aber Maurer ist und bleibt weiter die Schmerzensfrau schlechthin, nicht nur in der nationalen, auch in der internationalen Freiwasser-Szene. Am Samstag gewann sie in Kasan, im Wolga-Nebenfluss Kasanka, WM-Bronze über 25 Kilometer, die längste und härteste aller Strecken. Ihre Zeit: Fünf Stunden, 15 Minuten, sieben Sekunden, sechs Zehntel. Das ist länger als man von Frankfurt nach Kasan mit dem Flugzeug braucht.

Ein paar weitere Zahlen zu dieser außergewöhnlichen Karriere: Es ist Maurers 20. internationale Medaille, die zwölfte bei einer WM. Maurer hat sich nun Edelmetall bei neun verschiedenen Weltmeisterschaften erkrault, das erste im Jahr 2000 in Honolulu - damals war es ebenfalls Bronze über 25 Kilometer. Sie war Weltmeisterin 2006 (in Neapel) und 2009 (in Rom); 2002, 2007 und 2008 gewann sie den Gesamtweltcup. Sie war bei zwei Olympischen Spielen am Start, 2012 in London und 2008 in Peking - davor war das Freiwasserschwimmen noch keine olympische Disziplin. Und noch eine Zahl: Ihr Sohn ist inzwischen zehn Jahre alt.

Ein paar Eindrücke vom Ufer: Maurer, wie sie zunächst gar nicht jubelt, weil sie irrtümlich der Meinung ist, dass sie als Vierte angeschlagen hat. Sie hatte eine Ansage der Trainer, in der es irgendwie um die Zahl drei gegangen sein muss, so verstanden, dass "vorne drei Mädels weg sind". Tatsächlich lag sie selbst auf Rang drei. Dann: Maurer, irritiert, wie sie kurz mit einem Offiziellen ein paar Zeichen austauscht ("Dritte?"), Maurer, wie sie schließlich Freudentränen vergießt in den Armen ihres Ehemannes und Trainers Nikolai Evseev.

Karriere soll nun "ausplätschern"

Mehr als Zahlen und Freudentränen erzählt aber wohl diese Szene vom Samstagnachmittag über Maurer, die "Mutti": wie am Kasanka-Ufer gleich nach dem Rennen Isabelle Härle, 27, auf sie zuhüpfte und sich die beiden Frauen herzlich in den Arm nahmen. Isabelle Härle, das ist die Schwimmerin, wegen der Angela Maurer jetzt nicht nach Rio darf im kommenden Jahr.

Die 25 Kilometer, Maurers Schmerzensstrecke, sind nicht olympisch, auch nicht die fünf Kilometer und der Team-Wettbewerb. In diesen Disziplinen haben die deutschen Freiwasserschwimmer in Kasan ihre vier Medaillen gewonnen. Olympisch sind nur die zehn Kilometer, und da läuft das mit der Qualifikation folgendermaßen: Wer in Kasan unter die ersten zehn kam, ist in Rio definitiv dabei - im Zweifel ausnahmsweise auch zwei Schwimmer/Schwimmerinnen aus einem Land. Das war das Ziel von Maurer und Härle: "dass wir nebeneinander im Flieger nach Rio sitzen". Doch dann hat es am vergangenen Dienstag nur Härle geschafft mit Rang sieben; Maurer hatte kein gutes Rennen und landete auf Rang 23. Damit ist nun also Härle in Rio die einzige deutsche Starterin, der Platz ist weg, Maurer kann sich selbst über den Weltcup nicht mehr qualifizieren.

Härle brauchte sie als Mentorin

Aber das ist für sie schon okay, sie wird ihre Karriere jetzt halt "ausplätschern lassen". Die Mainzerin Maurer mag ehrgeizig sein, aber sie ist für die Essenerin Härle auch eine Art Mentorin geworden, als die vor vier Jahren vom Becken ins Freiwasser wechselte. Härle sagt, sie wäre in der rauen Open-Water-Welt völlig aufgeschmissen gewesen ohne Maurers Gemütsruhe - und ohne die diversen Badeanzüge und Schwimmbrillen, die die Seniorin ihr in den letzten Jahren schon leihen musste. Maurer wiederum sagte Anfang der Woche dem Sportinformationsdienst: "Ich habe zu Isi gesagt, das Ziel ist erst erreicht, wenn ich dich zu Olympia gebracht habe."

Während Härle ihre Mentorin "Mutti" nennt, nennt Maurer ihren Schützling "mein kleines Schäfchen".

Es ist eine im Leistungssport erstaunliche Nähe und Fürsorge. Zumal für eine Frau, die im Wasser ansonsten Angst und Schrecken verbreitet, weil der gezielte Schlag in die Rippen und der präzise Tritt mit der Ferse nun schon seit über 15 Jahren zu Angela Maurers Spezialrepertoire zählen.

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