Österreich:Regierung will Gemeinden zur Aufnahme von Flüchtlingen zwingen

  • Die Zahl der Asylanträge in Österreich steigt rasant.
  • Bund, Länder und Gemeinden schieben sich gegenseitig die Verantwortung für die Flüchtlinge zu. Nun will die Bundesregierung durchgreifen.
  • Dass im überfüllten Lager Traiskirchen selbst Kinder unter freiem Himmel auf dem Boden schlafen, hat sogar Amnesty International auf den Plan gerufen.

Von Ruth Eisenreich

Die österreichische Bundesregierung will Länder und Gemeinden in Zukunft mittels Verfassungsgesetz zur Aufnahme von Flüchtlingen zwingen können. Das kündigten der sozialdemokratische Bundeskanzler Werner Faymann und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner von der konservativen ÖVP am Freitag an.

Nimmt eine Gemeinde nicht freiwillig Flüchtlinge auf - Mitterlehner nannte ein bis zwei pro hundert Einheimischen als Richtwert -, könnte der Bund nach dem neuen Gesetz selbst Flüchtlingsunterkünfte in den Gemeinden schaffen, in Gebäuden, die ihm gehören oder die er mietet.

Das Gesetz solle möglichst noch im Herbst in Kraft treten, sagte Faymann. Für den Beschluss braucht die Regierung die Stimmen einer Oppositionspartei, die Grünen erklärten sich grundsätzlich bereit, das Gesetz zu unterstützen. Scheitern könnte das Gesetz aber etwa am Widerstand der Landeshauptleute (Ministerpräsidenten) - sie haben formell zwar nicht die Macht, ein Gesetz zu verhindern, üben aber tatsächlich großen Einfluss auf die Regierung aus.

Bürger protestieren

Seit Jahren schieben sich Bund, Länder und Gemeinden in Österreich gegenseitig die Verantwortung für die Flüchtlinge zu, Bürger protestieren - oft angefeuert von der rechtspopulistischen FPÖ - gegen neue Unterkünfte in ihren jeweiligen Orten, Bürgermeister geben dem Druck oft allzu schnell nach.

Die bisher existierenden Bundesländer-Quoten erfüllen nur wenige der neun Länder. Das wird angesichts der rasant steigenden Zahl an Menschen, die in Österreich Asyl suchen, ein immer größeres Problem. Allein am vergangenen Montag habe es 410 neue Asylanträge gegeben, sagte ein Vertreter des Innenministeriums am Freitag; das sei der höchste Wert seit Beginn der Aufzeichnungen. Insgesamt erwarte man für dieses Jahr 70.000 bis 80.000 neue Asylanträge, ebenfalls ein Rekordwert für das 8,5-Millionen-Einwohner-Land.

Flüchtlinge schlafen unter freiem Himmel

In verschiedenen Orten in Österreich leben Flüchtlinge derzeit in Zeltlagern. Im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen südlich von Wien, der ersten Station für alle in Österreich ankommenden Asylbewerber, sind im Moment mehr als 4500 Menschen untergebracht; ausgelegt ist es für etwa 1800. Weil es nicht genug Betten gibt, schlafen seit Wochen bei jedem Wetter Hunderte Menschen - Erwachsene, aber auch kleine Kinder - auf den Gängen oder unter freiem Himmel am Boden.

Als Anfang Juli heftige Gewitter drohten, bestellte das Innenministerium Postbusse nach Traiskirchen, in denen die Asylbewerber Schutz vor dem Regen finden sollten. Diese Zustände haben sogar die Londoner Zentrale von Amnesty International auf den Plan gerufen: Die Menschenrechtsorganisation will das Lager in der kommenden Woche überprüfen. Erst vor wenigen Tagen soll einem Team des Wiener Psychosozialen Dienstes und der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen der Zutritt verwehrt worden sein: "Ärzte ohne Grenzen kommen zwar im Sudan in jedes Lager, aber nicht in Österreich", sagte der Leiter des Psychosozialen Dienstes im Radiosender Ö1. Auch Journalisten dürfen das Lager nur in Ausnahmefällen betreten.

Aufnahmestopp für das Erstaufnahmelager

Während Kanzler und Vizekanzler gerade ihre neue Gesetzesinitiative vorstellten und ankündigten, den Tagsatz für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zu erhöhen, erließ das ÖVP-regierte Bundesland Niederösterreich, in dem Traiskirchen liegt, wegen der "medizinischen und hygienischen Lage" einen Aufnahmestopp für das Erstaufnahmelager.

Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP), die erst vor einer Woche forderte, die Standards bei regulären Flüchtlingsheimen zu senken - etwa mit einer Dusche und einem WC für zwanzig statt für zehn Menschen -, kündigte strukturelle Verbesserungen bei der Verteilung der Asylbewerber an. Außerdem habe man in mehreren Gemeinden Baugenehmigungen für Wohncontainer beantragt, und alle obdachlosen Frauen sowie Kinder aus Traiskirchen sollten noch am Freitag in ein Gebäude des Ministeriums übersiedeln. Die Stadt Wien kündigte an, die Betreuung aller unbegleiteten minderjährigen Mädchen aus Traiskirchen zu übernehmen.

Hilfsorganisationen beurteilten die Neuerungen vorsichtig positiv. Dass Menschen in Obhut des Bundes "zur Obdachlosigkeit verurteilt" sind, sei "ein absolut untragbarer Zustand und einer Republik wie Österreich nicht würdig", teilte etwa Michael Landau mit, der Präsident der Caritas, die mehrere tausend Asylbewerber in Österreich betreut: " Jeder Schritt, der dabei hilft, zusätzliche Quartiere und zusätzliche Betten zu schaffen, ist ein guter Schritt."

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