Doping in der Leichtathletik:Schatten über dem Sport

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Laut einer ARD-Dokumentation ist die Leichtathletik zerfressen von Doping, von Athleten, die ihr Leben riskieren,

(Foto: Christophe Simon/AFP)
  • Die ARD-Dokumentation "Geheimsache Doping - Im Schattenreich der Leichtathletik" enthüllt einen neuen Dopingskandal.
  • Demnach ist die kenianische Laufszene zerfressen von Doping.
  • Die betroffenen Nationen reagieren reflexartig abwehrend.
  • Auch die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) steht in der Kritik.

Von Johannes Knuth

Geoffrey Tarno wurde in seinem Garten begraben, seine Familie wird so jeden Tag an ihn erinnert. Tarno, 32, starb bei einem Marathon in Eldoret, Kenia. Er wollte der Armut davonlaufen, wie so viele Läufer in Kenia, vermutlich ließ er sich das Blutdopingmittel Epo spritzen, bis sein Herz kollabierte. Auf dem Holzkreuz auf seinem Grab steht das Sterbedatum, 13.10.2013, davor das Wort "Sunset". Sonnenuntergang.

Die Szene stammt aus der ARD-Dokumentation "Geheimsache Doping - Im Schattenreich der Leichtathletik". Demnach ist die kenianische Laufszene zerfressen von Doping, von Athleten, die ihr Leben riskieren, wie Tarno. Und das offensichtlich in einem ungeahnten Ausmaß. Die Filmemacher haben einen Datensatz aufgetrieben, aus dem sich ein massiver Verdacht ableiten lässt: Über jeder dritten Medaille, die zwischen 2001 und 2012 bei Olympia oder einer WM in Ausdauerdisziplinen verteilt wurde, schwebt eine Wolke des Zweifels. Diese Wolken werden sich wohl nicht verziehen bis zur WM Ende August in Peking. Am Ende des Films sagt der Blutexperte Michael Ashenden: "Für mich sieht es so aus, dass die Leichtathletik in der gleichen teuflischen Situation ist wie der Radsport vor 20 Jahren."

Der Film knüpft an die erste Dokumentation vom Dezember an, damals enttarnten die Spitzenläuferin Julia Stepanowa und ihr Ehemann ein großflächiges Betrugsnetzwerk in der russischen Leichtathletik. Jetzt trifft man auf alte Bekannte, die 800-Meter-Olympiasiegerin Marina Sawinowa, ihren schwer belasteten Trainer Wladimir Kazarin. Man lernt auch neue Protagonisten kennen, Anastasia Bazdirewa zum Beispiel, ein Talent über 800 Meter. Was sie alle anführen, während sie heimlich gefilmt werden: Doping ist ihr Treibstoff, sie manipulieren munter weiter, mit Epo, Wachstumshormon, Anabolika.

Steht ein Dopingtest an, werden sie offenbar von der nationalen Anti-Doping-Agentur vorgewarnt.

Dazu kommen diesmal die Bilder aus Kenia. Die Läufer aus den Hochebenen Ostafrikas dominieren die Laufszene seit Jahrzehnten. Dass sie dabei nicht nur den Gaben der Natur vertrauen, raunt die Szene seit einer Weile. Die Recherchen ordnen nun viele Akteure in Wort und Bild der Betrugsseite zu: Athleten, Ärzte, die Epo spritzen, den Verband, bei dem sich Läufer freikaufen, wenn sie positiv getestet werden.

In Kenia verteufeln sie den Bericht als "verleumderisch", in Russland als "Quatsch"

Der größte Fund der ARD-Recherche ist aber eine Datenbank mit 12 000 Bluttests, gehoben aus dem Inneren des Welt-Leichtathletikverbandes IAAF. Die Australier Michael Ashenden und Robin Parisotto, zwei Experten in Sachen Blutdoping, haben diese Datenbank analysiert, unabhängig voneinander. Sie legen 1400 auffällige Tests vor von 800 Athleten, von Weltmeistern, Olympiasiegern, WM- und Olympia-Teilnehmern zwischen 2001 und 2012. Auffällig bedeutet, dass die Werte nach Kriterien des biologischen Passes ermittelt wurden und nicht natürlich zu erklären seien. Jede dritte Medaille, die in Ausdauerdisziplinen verteilt wurde, ging an einen Sportler, bei dem die Werte im Lauf seiner Karriere einmal ins Verdächtige ausschlugen. Verdächtig heißt, dass mindestens einer der beiden Experten mindestens einen Blutwert entdeckte, der Doping nahelegt. Zwei Drittel dieser Athleten wurden nie belangt.

"Der Sport ist überfordert"

Ach ja, 20 Athleten weisen nach Experteneinschätzung derart extreme Blutwerte auf, dass sie nah am Herzinfarkt gewesen seien und medizinischer Notfallbehandlungen bedurft hätten. Haushoch führend im Medaillenspiegel der Verdachtsfälle: Russland. Gefolgt von Kenia. Unter den Top Ten vertreten bei Männern wie Frauen sind auch Spanien und die USA. Als Event, bei dem die meisten belasteten Sportler Medaillen abräumten (27,45 Prozent), gelten laut Datenbank die Pekinger Sommerspiele 2008.

"Die Daten sind von großer Bedeutung", sagte der deutsche Anti-Doping-Experte Fritz Sörgel der dpa, "wegen der Menge und weil sie aus einer Zeit des fröhlichen, unbeschwerten Blutdopings stammen."

Es gibt dann noch ein interessantes Zitat des Trainers Kazarin. Er empfiehlt einer Athletin, ab und zu ein mit Epo zu dopen, "zumindest kannst du dann noch ein bisschen besser trainieren". Das erinnert an eine Studie aus dem Mai, französische Wissenschaftler hatten nachgewiesen, wie Athleten dank Mikrodosierungen den von Verbänden oft gepriesenen biologischen Blutpass austricksen. Selbst unverdächtige Werte gelten längst als verdächtig. Das weist über den ARD-Film hinaus.

Die Erschütterungen bahnten sich am Sonntag ihren Weg durch den Weltsport. "Wir sind entsetzt über das Ausmaß der Anschuldigungen", sagte Craig Reedie, Präsident der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada). Man werde die Funde umgehend an die zuständige Kommission im Haus weiterleiten. Dieses Gremium ermittelt übrigens seit rund acht Monaten, als die Vorwürfe des ersten ARD-Films bekannt wurden. Helmut Digel, Mitglied im IAAF-Council, sagt: "Ich sehe den eigentlichen Skandal darin, dass die Wada bis heute keinen Untersuchungsbericht vorgelegt hat. Den Schaden haben die sauberen Athleten."

Clemens Prokop, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbands, ergänzt: "Der Sport ist überfordert, solche Netzwerke alleine zu zerschlagen", man brauche den Staat als Partner. Die Enthüllungen unterstrichen, wie dringend das in Deutschland geplante Anti-Doping-Gesetzes benötigt werde; sie seien auch "ein Plädoyer für eine staatlich verankerte Kronzeugenregelung". Letztere fehlt im Gesetzentwurf.

Und sonst? Der kenianische Verband bezeichnet den ARD-Bericht als "verleumderisch", Russlands Sportminister Witali Mutko nennt die Vorwürfe "Quatsch". Die IAAF teilt mit, die Analyse einzelner Werte sei "Spekulation". Man bereite eine ausführliche Stellungnahme vor.

Am 19. August, kurz vor der WM in Peking, wählt die IAAF einen Nachfolger des skandalumtosten Präsidenten Lamine Diack. Svein Arne Hansen, Präsident des europäischen Verbands EAA, sagte am Sonntag: "Die Wichtigkeit dieses Wechsels kann nicht genug betont werden."

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