Berlin:Am Rande der Gesellschaft

Migrants And Refugees Arrive In Record Numbers

Morgens verteilen Sachbearbeiter neue Wartezettel. Flüchtlinge in Berlin.

(Foto: Sean Gallup/Getty Images)

Hunderte Flüchtlinge harren vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales aus.

Von Jens Schneider, Berlin

Die beiden jungen Männer stehen in der Mitte der Menschenschlange in der Berliner Turmstraße. Sie kommen aus Somalia, eine lange Flucht liegt hinter ihnen. Nun harren sie in dieser Warteschlange von Flüchtlingen aus, die sich in einem rot-weißen Absperrgitter nur sehr gelegentlich vorwärts bewegt, zum Eingang des Berliner Landesamtes für Gesundheit und Soziales, LaGeSo genannt. Um die Schlange herum stehen und sitzen Hunderte, manche mit Koffern und Taschen. Auch sie alle warten, einige von ihnen seit Tagen, manche übernachten hier.

Mehr als tausend Menschen sind es bestimmt, die an diesem Freitagvormittag auf dem Gelände des Amtes in Moabit im Herzens Berlins auf dem Gras campieren. Es sind Familien aus Syrien oder vom Balkan, auch viele junge Männer, die sich allein auf den Weg nach Deutschland gemacht haben. Einige sind hier, weil sie auf einen Termin beim Amt warten. Sie haben schon eine Unterkunft. Andere wollen sich bei der Erstaufnahme als Flüchtlinge registrieren lassen. Allein am Donnerstag sprachen nach Behördenangaben 1930 Flüchtlinge und Asylbewerber vor. 675 Menschen kamen, um Krankenscheine oder Sozialleistungen zu erhalten. 1255 wollten sich als Asylbewerber registrieren lassen.

Es ist auffallend still auf dem Platz. Die Hitze dämpft alles. Fast alle haben sich einen Schattenplatz gesucht, in einem der zwei Zelte, an Hauswänden oder unter Bäumen. Wie könnten sie es sonst hier aushalten an diesem heißesten Sommertag?

Freiwillige Helfer aus der Umgebung verteilen Bananen und Pfirsiche

Die beiden Männer aus Somalia haben auch tags zuvor schon hier gestanden und gewartet. In der Hand halten sie einen kleinen, blauen Abrisszettel, ihre Wartenummer. Die haben sie immerhin bekommen. Wo haben sie die Nacht verbracht? "On the street", sagt einer der beiden leise. "Can you help?" Sie wissen nicht, was sie hier erwartet, hoffen auf ein Bett für die Nacht, überhaupt Hilfe. Ob sie an diesem Freitag noch ihren Antrag abgeben können, lässt sich nicht absehen.

Freiwillige aus der Nachbarschaft verteilen Pfirsiche und Bananen. Ein Helfer teilt Wasserbeutel aus, auf denen steht: "Nur für den Notfall". Die Berliner Wasserbetriebe haben sie geliefert, als man sich sorgen musste, dass die Flüchtlinge nicht genug zu trinken bekommen. In der Stadt kursierte die Nachricht, dass es an Wasser fehle, an Essen, überhaupt am zum Leben Nötigsten. So kamen Berliner, um zu helfen, manche hatten Wasserflaschen gekauft, andere brachten Essen.

Die Opposition wirft Berlins Sozialsenator Mario Czaja (CDU) inzwischen Versagen vor. "Mitten in Berlin dursten Kinder, Schwangere, Hunderte Menschen, die in unserer Stadt Schutz vor Krieg und Verfolgung suchen", kritisierte Linken-Fraktionschef Udo Wolf. "Das LaGeSo ist überfordert, die Beschäftigten dort sind am Rande ihrer Kräfte. Wir erwarten vom Senat umgehend Maßnahmen zur humanitären Soforthilfe."

Wie die Linke verlangten auch die Berliner Grünen vom Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD), die Flüchtlingspolitik zur Chefsache zu machen. Die "AG Migration und Vielfalt" in der Berliner SPD sprach von einer "humanitären Notlage mitten in Berlin". Müller rief nach der heftigen Kritik am Freitagnachmittag zum Krisengespräch.

"Niemand verdurstet hier", betont ein Sprecher des Amtes, man kümmere sich um die Menschen. Aber niemand verhehlt die dramatische Situation, keiner kann sie übersehen. Die Zustände sind für alle eine Belastung, für die Wartenden und die Mitarbeiter des Amtes, die dem Ansturm nicht gewachsen sind. Da können sie noch so viele Überstunden machen, "bis zur Schmerzgrenze", wie der Sprecher sagt.

Allein im Juli mussten nach Angaben eines Sprechers 4106 Flüchtlinge neu untergebracht werden, Unterkünfte für Flüchtlinge aber gibt es in der Stadt eigentlich keine mehr. Im Amt seien 64 Mitarbeiter mit der Erstaufnahme von Flüchtlingen beschäftigt, heißt es. Das Personal ist in den letzten Monaten aufgestockt worden, aber nicht so angewachsen wie die Zahl der Flüchtlinge. "Dies ist eine Behörde, dies ist kein Aufnahmelager", sagt der Sprecher über die Situation vor dem Haus.

Das Gelände und das Haus sind nicht auf die Lage eingerichtet. Den Zugang regeln Sicherheitskräfte. Unten stempelt ein Sachbearbeiter am Eingang Ziffern auf neue Wartezettel. Aber wegen des Andrangs ist die Situation chaotisch. Am Freitagnachmittag eskalierte die Lage, als sich ein paar der Anstehenden in das Gebäude drängen wollten. Laut Polizei wurde in der Rangelei mit dem Sicherheitspersonal ein Flüchtling verletzt, danach flogen Flaschen, Obst und Schuhe. Als die Polizei eingriff, beruhigte sich die Stimmung wieder.

Der Regierende Bürgermeister drang nach den Krisenrunden am Freitag darauf, dass noch zum Wochenende für alle Flüchtlinge dort eine Unterkunft gefunden werden sollte.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: