Schiiten im Irak:Gegen die feigen Kämpfer des Islamischen Staats

Imam-Hussein-Moschee in Kerbela

In der Imam-Hussein-Moschee in Kerbela liegt der Enkel des Propheten Mohammed begraben. Er besiegelte die Glaubensspaltung des Islam.

(Foto: Mohammed Sawaf/AFP)

"Wir schützen die ganze Welt vor dem Bösen": In Kerbela stehen die heiligen Stätten der Schiiten. Deren Milizen wehren sich gegen den IS.

Von Paul-Anton Krüger, Kerbela

Wenn der Tag sich dem Ende zuneigt, taucht die Sonne die goldenen Kuppeln und Minarette von Kerbela in ein magisches Licht. Der Himmel tönt sich orange, rot, violett. Mit jeder Nuance, die er sich verdunkelt, strahlt das Gold intensiver. Und wenn die Nacht sich schwarz über die Stadt senkt, gleißen die Heiligtümer im Flutlicht. Es ist die Zeit, in der die sengende Hitze langsam nachlässt. Die Gläubigen sammeln sich dann in dem riesigen, mit weißem Marmor und schwarzem Granit ausgelegten Innenhof, der die Imam-Hussein-Moschee mit jener seines Bruders Abbas verbindet. Es sind Zehntausende Menschen an normalen Tagen, an Feiertagen sind es Millionen. Kerbela im Irak ist für schiitische Muslime eine der heiligsten Städte.

Die Schlacht von Kerbela am 10. Oktober 680 besiegelte die Glaubensspaltung im Islam. Es ging darum, wer rechtmäßig die Nachfolge des Propheten Mohammed antreten dürfe, um die Gemeinschaft der Muslime zu führen. Dessen Enkel Hussein verweigerte dem Kalifen Yazid die Gefolgschaft, der in Damaskus residierte. Die Partei Alis, arabisch Schiat Ali, benannt nach Husseins Vater, erkannte nur Mitglieder der Familie des Propheten als legitime Führer an. Doch Hussein und Abbas wurden vernichtend geschlagen von den Sunniten.

Die Schreine der Brüder liegen im Inneren der beiden Moscheen. Den Schiiten gelten sie als Märtyrer, sie werden wie Heilige verehrt. Sayyid Muhammad, der in der Verwaltung des Abbas-Schreins arbeitet, geleitet durch den riesigen Komplex. Robe und Turban weisen den Mann mit dem grauen Vollbart als schiitischen Kleriker aus. Der Weg hierher führt durch mehrere Sicherheitsschleusen mit Metalldetektoren und Taschenkontrolle, vorbei an Soldaten und Polizisten, die Sturmgewehre im Anschlag halten. Ohne Sayyid Muhammad ist kein Vorbeikommen an den Wachen.

Die Inbrunst im Glauben wird greifbar an diesen beiden Grabmälern

Die Inbrunst im Glauben, die aufrichtig gefühlte Trauer der Schiiten für die Märtyrer, sie wird greifbar an diesen beiden Grabmälern. Gläubige pressen die Stirn zum Gebet auf kleine Tonscheiben, Turbah genannt - im Bemühen, es dem Propheten nachzutun, der sich auf den blanken Boden vor Gott niederwarf. Frauen in schwarzen Tschadors streichen ergriffen von der Heiligkeit des Ortes mit der Hand über die reich mit Kalligrafien verzierten Wände. Die Schreine werden geküsst als Ausdruck der Verehrung. Im Hof, der 250 auf 150 Meter misst, rezitieren Imame den Koran.

Familien, die sich ein Hotelzimmer nicht leisten können, lagern die Nacht im Freien zwischen zwei Reihen von Palmen. Dem Volksglauben nach bringt es Glück, in der Nähe der Schreine zu schlafen. Viele von ihnen sind tagelang zu Fuß hierhergepilgert. Frisch verheiratete Paare kommen, um Segen für ihre Ehe zu erbitten.

Wenn sich Glauben in Zahlen fassen lässt: Zu den wichtigsten religiösen Festen der Schiiten strömen sieben, zehn, bis zu 14 Millionen Pilger in die 500 000-Einwohner-Stadt, die zwei Autostunden südlich von Bagdad im Zentralirak liegt.

Sayyid Muhammad bittet in einen Empfangssaal im Inneren der Abbas-Moschee, gegenüber vom ebenfalls mit Blattgold ausgekleideten Eingang des Schreins. Hier erweisen Besucher den schiitischen Gelehrten Reverenz. Manche erhalten eine kleine, weiße Plastiktüte. Darin ein wenig Erde, eingehüllt in Cellophan, die am Sockel des Schreins weggekratzt ist - der Stelle, an der Abbas auf dem Schlachtfeld sein Leben gelassen hat. Dazu ein Stück grüner Stoff, billige Kunstfaser, aber geschnitten aus einem Tuch, das den Schrein umwickelt hat. Näher kann man dem Märtyrer nicht sein. Es ist für Schiiten ein Präsent von immensem immateriellen Wert.

14 Millionen Pilger

strömen an hohen schiitischen Feiertagen nach Kerbela - vor allem zu Arbaïn und Aschura, die an den Märtyrertod von Imam Hussein erinnern. Die Versammlungen in der Stadt mit 500 000 Einwohnern sind immer wieder zum Ziel sunnitischer Terroristen geworden, die Schiiten als Abtrünnige vom Glauben diffamieren.

Für sunnitische Fundamentalisten ist all der Prunk, der Märtyrer-Kult, die Volksfrömmigkeit nichts als verwerflicher Götzendienst - für die Schergen des Terror-Kalifen Abu Bakr al-Bagdadi Grund genug, Schiiten als Ungläubige zu morden. Nichts würde ihnen größere Genugtuung verschaffen, als die opulenten Schreine zu zerstören. Deswegen findet man Scheich Maitham al-Zaidi zurzeit nicht im Schrein von Abbas, wo er sonst wie Sayyid Muhammad in der Verwaltung arbeitet.

Kampfuniform, Koran, Pistole

Er sitzt hinter einem Schreibtisch in einem kleinen Büro in einem Pilgerzentrum am Rande der Stadt und trägt Kampfuniform. Außer dem Koran hat er eine Pistole neben sich liegen. Das Pilgerzentrum ist umfunktioniert worden zum Hauptquartier der Abbas-Division. Hier kommen die Männer an, die sich freiwillig melden zu einem der größten Milizen-Verbände der Schiiten im Irak. Maitham al-Zaidi ist ihr Kommandeur.

"Wir sind einer Fatwa von Großayatollah Sayyid Ali al-Sistani gefolgt, unser Land zu verteidigen", sagt er. Sie haben im Juni 2014 zu den Waffen gegriffen. Es war eine Glaubenspflicht für die Männer, die sonst zivilen Berufen nachgehen. Damals war der Islamische Staat (IS) den Schreinen von Abbas und Imam Hussein auf 30 Kilometer nahegekommen. Mit ihren Mörsergranaten und Katjuscha-Raketen schossen die Dschihadisten bis in die Außenbezirke von Kerbela. Sie hatten Mossul überrannt und Tikrit und die benachbarte Provinz Anbar. Der greise Ayatollah aus Nadschaf, höchste Autorität der Schiiten im Irak, rief zur Selbstverteidigung. Auf die Armee wollten sich die Schiiten beim Schutz ihrer Heiligtümer nicht verlassen. Unvergessen ist ihnen, wie bei zwei Bombenanschlägen erst die Kuppel und dann die Minarette der Al-Askari-Moschee von Samarra zerstört wurden, 2006 und 2007 war das.

"Wir kämpfen für unseren Glauben"

Maitham al-Zaidi mag nicht, wenn man von Milizen redet, er spricht lieber von den Volksmobilisierungs-Einheiten. "Wir verteidigen nicht nur uns, wir schützen die ganze Welt vor dem Bösen", sagt er. Und dass Großayatollah Sistani das Prinzip der Herrschaft des Rechtsgelehrten ablehne, das in Iran alle Macht dem Obersten Führer vorbehält. Soll heißen, die 6000 Mann, die al-Zaidi kommandiert, hören nicht auf Befehle aus Teheran. "Wir stehen unter dem Schirm des Verteidigungsministeriums", sagt er - was aber nicht gerade nach einer militärischen Befehlskette klingt.

Vom Mardscha, der Quelle der Nachahmung, redet der Kommandeur, ein kleiner, kräftiger Mann mit sanfter Stimme, wenn er Sistani erwähnt. Schiiten folgen einem Großayatollah, der autoritativ den Koran auslegt. Mit jeder Glaubensfrage, die sich aus dem Alltagsleben ergibt, können seine Anhänger bei ihm Rat suchen. Beantwortet werden sie mit Rechtsgutachten, Fatwas, die auch im Internet nachzulesen sind.

Ob Katzenhaare auf der Kleidung das Gebet ungültig machten, will einer wissen - was der Ayatollah verneint. "Dürfen wir Öl in der Zubereitung unserer Speisen oder anderweitig verwenden, das von Fischen stammt, die uns verboten sind?", fragt ein anderer - in Speisen nicht, zu anderen Zwecken schon, wird ihm beschieden.

"Wir haben bemerkt, dass die Kämpfer des Islamischen Staates feige sind"

Der Einfluss des Mardschas auf das Leben seiner Anhänger reicht weit - erst recht, wenn es um existenzielle Fragen geht. "Wir kämpfen für unseren Glauben", sagt Maitham al-Zaidi, wenn man ihn fragt, warum seine Männer einen Feind besiegen können sollen, vor dem die irakische Armee mehr als einmal Reißaus genommen hat. "Wir haben bemerkt, dass die Kämpfer des Islamischen Staates feige sind", sagt al-Zaidi. "Sie haben moderne Waffen, aber sie laufen davon." Seine Leute dagegen verließen sich auf den Beistand Gottes - und leisteten Sistani Folge.

"Wir waren in einem Gefecht bei Amarli", schildert er. Selbstmordattentäter, Mörsergranaten, Millionen Kugeln habe der Islamische Staat gegen sie geschickt. "Ich habe zu Gott gebetet, seine Gläubigen zu schützen, und wir haben gespürt, dass ein Geist hinter uns steht", sagt der Kommandeur - der verborgene zwölfte Imam, dessen Wiederkehr als Erlöser die Schiiten erwarten. Das habe sie in der Schlacht beflügelt, obwohl sie in der Unterzahl waren. Für sie ist es ein gerechter Kampf - wie einst der von Imam Hussein und seines Bruders Abbas. Darauf beruht der schiitische Opfermythos. Wer für den Glauben fällt, wird als Märtyrer geehrt werden.

Die Milizen gelten als kampfstarke Truppen; sie haben Tikrit befreit und kämpfen 30 Kilometer weiter um Baidschi mit seiner Raffinerie. Sie sollen nun auch helfen, den Islamischen Staat aus Anbar zu vertreiben, jener ganz überwiegend sunnitischen Provinz. "Wir werden uns daran beteiligen, wenn die Regierung uns darum bittet", antwortet Maitham al-Zaidi, wenn man ihn fragt, ob die Schiiten jetzt nicht nur ihre Schreine verteidigen, sondern auch ins Kernland der Sunniten vorstoßen wollen.

Denn die Milizen gelten auch als brutal, als undiszipliniert. Sie haben geplündert und Rachemorde verübt an Sunniten, die sie als Kollaborateure des Islamischen Staates beschuldigen. In Tikrit und anderen befreiten Orten hindern sie Sunniten an der Rückkehr. Sie wollten "das demografische Gleichgewicht in einigen Provinzen verändern", wirft ihnen ein sunnitischer Politiker aus Tikrit vor - eine deutliche Warnung, dass unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Islamischen Staat ethnische Vertreibungen organisiert würden.

Dem Premier blieb nichts, als die Milizen zur Hilfe zu rufen

Maitham al-Zaidi weist das entschieden von sich. Der Mardscha habe befohlen, "unsere sunnitischen Brüder mit unserem Blut zu verteidigen", sagt er -"Zwischenfälle", wie er es nennt, gebe es in jedem Krieg. Tatsächlich bemüht sich Sistani um Versöhnung. Doch längst nicht alle Milizionäre hören auf ihn - und schon gar nicht auf die Regierung in Bagdad von Premier Haidar al-Abadi. Die Badr-Miliz, die Hisbollah-Brigaden, sie werden von den Revolutionsgarden in Iran gesteuert. Sie starteten die Offensive auf Tikrit. Abadi hatte keine Wahl, als sich an die Spitze der Operation zu setzen, wollte er nicht desavouiert werden.

Und nach dem schmachvollen Abzug der Armee vor dem Islamischen Staat in Ramadi blieb dem Premier nichts, als die Milizen auch im Kampf um Anbar zur Hilfe zu rufen. Maitham al-Zaidi beschwichtigt: "Wir kämpfen für ein Leben in Frieden und Freiheit und einen Irak, in dem alle Muslime zusammenleben." Er hat eine Familie, einen Beruf. Auch er ist dem Ruf des Mardschas gefolgt, aber am liebsten will er zurück in den Schrein von Abbas, zu seinem Kollegen Sayyid Muhammad. Doch die Gläubigen können sich nicht aussuchen, wie sie ihrem Gott zu dienen haben.

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