Deutsches Fernsehen:Der Springteufel

Thomas Frickel

Thomas Frickel: Ein Programm "unabhängig von Einschaltquoten und Werbeaufträgen".

(Foto: Natalie Neomi Isser)

Der Dokumentarfilmer Thomas Frickel hat es mit hartnäckigen Wortmeldungen geschafft, die größte Nervensäge im öffentlich-rechtlichen System zu werden.

Von Willi Winkler

Als Besucher von Aktionärsversammlungen ist der Besitzer kleinster Anteilscheine ein besonders ungern gesehener Gast. Wenn das anwesende Stimmkapital blind dem Vorstand die Entlastung gewähren will und die Erhöhung der Bezüge gleich mit durchwinkt, kommt der Kleinaktionär nach vorn und möchte Grundsätzliches diskutiert haben: Warum die Filiale in Hamburg-Eppendorf geschlossen werden musste und ob die silbergraue Farbe, mit der der Jahresbericht unterlegt ist, nicht vielleicht doch Schadstoffe enthält und, ja, sollte der Vorstandssprecher der Deutschen Bank nicht vielleicht Deutsch können, ein bisschen wenigstens?

Ungefähr so muss den öffentlich-rechtlichen Anstalten ARD und ZDF Thomas Frickel vorkommen - eine Nervensäge ohne Lobby, die nur den Betrieb aufhält und den nicht einmal die Aussicht aufs kalte Büfett hinterher von seinen penetranten Fragen abhält. Das tut er allerdings so hartnäckig und subversiv, dass er inzwischen ein echter Albtraum für öffentlich-rechtliche Hierarchen sein muss. Frickel hat nicht nur in diesem Frühjahr die peinlichen Vorverträge der WDR Media zum Vorabendtalk von Thomas Gottschalk in der ARD geleakt und damit eine Debatte über Stargehälter im Anstaltsfernsehen losgetreten, also Riesenwind gemacht. Nein, Frickel hat irgendwann auch angefangen, jedesmal hartnäckig und trotzig per Pressemitteilung und mit großem Echo immer dieselbe unmögliche Frage zu stellen, wenn irgendwo ein Sendeplatz frei wird. Warum kann man hier nicht Dokumentarfilme zeigen? Im Vorabendfernsehen, wo Thomas Gottschalk gescheitert ist? Am Sonntagabend, wo Günther Jauch bald nicht mehr talkt? Wenn die nächste Lücke im Programm auftaucht, wird Frickel mit seiner Frage wieder zur Stelle sein wie ein Springteufel. Eine Antwort erhält er selten, allein die Frage ist eine Provokation. Sie stellt das ganze schöne hochbezahlte Quotenprogramm bei ARD und ZDF in Frage. Frickel, der auch ein Amt hat und Regisseure, Autoren und Produzenten von Dokumentarfilmen als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm AG Dok vertritt, ruft die Öffentlich-Rechtlichen so unermüdlich wie listig zu Buße und Umkehr auf.

Früher kämpfte er gegen den Ausbau der Startbahn West in Frankfurt

Aber Frickel ist gar keine Nervensäge, sondern sitzt friedlich in einem Café in der Kaiserstraße in Frankfurt am spülwasserwarmen Main und isst Souvlaki. Vor einigen Jahrzehnten war die Kaiserstraße noch die Hölle oder, je nachdem, das Paradies sexueller Dienstleistungen. Jetzt ist es ein multiethnisches Biotop, in dem sich alle gut gelaunt treiben lassen. Die Banker kommen auf einen kohlehydratfreien Haps mit windelweichem finnischen Mineralwasser vorbei, der Taxler verzehrt seinen Business-Lunch direkt vom Kofferraumdeckel. Das gute alte verkommene Frankfurt ist ein einziges Sommer-Idyll.

Frickel gehört da gar nicht rein, denn er wohnt und arbeitet weit draußen in Rüsselsheim, wo einst Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer zum Opel arbeiten gingen, um die Werktätigen zu agitieren. Die Werktätigen haben es überlebt, Fischer ist Außenminister geworden, und nicht einmal die Bilder, die der Fotograf Lutz Kleinhans von ihm beim Straßenkampf gemacht hat, konnten an dieser Karriere etwas ändern. Als später der Kampf um die Startbahn West tobte, nahm Kleinhans eine Reihe junger Menschen auf, die mit nacktem Oberkörper über den Stacheldraht stiegen; einer davon war Frickel. Minister ist er trotzdem nicht geworden, nicht einmal Abgeordneter, aber immerhin ein Funktionär, den ARD und ZDF mit ähnlicher Inbrunst lieben wie die Bahnreisenden Claus Weselsky, den Vorsitzenden der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer.

Die Nervensäge erzählt jetzt in freundlichster, kaum zu unterbrechender Rede von seinen Abenteuern im öffentlich-rechtlichen Gewerbegebiet. Wie er irgendwie - denn natürlich verrät er nicht, wie - an den "Letter of Intent" vom Mai 2011 gelangt ist. Thomas Gottschalk wurden für 144 Folgen seiner werbegestützten Vorabendsendung 4,6 Millionen Euro zugesagt, die auch fällig wurden, nachdem der Starmoderator 2012 wegen Quotenminderleistung bereits nach 70 Sendungen aufhören musste. Das Geld hätte man natürlich anders besser ausgeben können.

Frickel, Jahrgang 1954, hat wie alle schon als Schüler zu schreiben angefangen, für die Zeitung zuerst, dann an der Offenbacher Hochschule für Gestaltung das Filmemachen gelernt. Mit Unterstützung des Kabarettisten Matthias Beltz hat er Demonstrationsfilme über den Kampf gegen die Startbahn West gedreht, eine Dokumentation über den Pfarrer Oskar Brüsewitz, der sich 1976 aus Protest gegen das DDR-Regime selber verbrannte und in der Tradition der klassischen Frankfurter Schule zwei Filme mit dem indianisch-amerikanisch-hessischen Journalisten Dennis Mascarenas zwei "Mockumentarys", Pseudodokumentationen also, in denen der Reporter mit übelstem amerikanischen Akzent und einer sagenhaften Leidensfähigkeit das deutsche Wesen vor allem bei Mondjünglingen und anderen Komplett-Narren erforscht.

Seine Filme handeln zum Beispiel von Mondjünglingen und anderen Komplett-Narren

Quotenknaller sind das nie gewesen, vor allem war damit kein Geld zu verdienen, aber das kümmert Frickel recht wenig. Mit unverhohlenem Stolz erzählt er, wie ihn ein Senderjurist, dem er die prekariatsniedrige Bezahlung von Dokumentarfilmern vorrechnete, nichts Besseres zu sagen gewusst habe als: "Aber warum machen Sie's dann überhaupt?" Solche Kunstfernen Töffel kommen ihm gerade recht.

Seit 1986 leitet er die AG Dok und kämpft hingebungsvoll dafür, dass nicht bloß seine, sondern Dokumentarfilme überhaupt wahrgenommen werden. Er hat ein ebenso bescheidenes wie hochgemutes Projekt, und von dem will er einfach nicht lassen: "Wir wollen, dass das Fernsehen insgesamt besser wird." Natürlich wird alles immer schlechter, der Biedergang ist nicht aufzuhalten und überhaupt ist die Lage ganz schlimm. Aber Frickel in seinem schamlosen Optimismus sieht Fortschritte. Als er vor vielen Jahren in der Filmförderungsanstalt anfing, haben sie ihn ausgelacht - der kleine Dokumentarfilmer, was will der denn hier? So empfand er das. Aber mit der Zeit hat er sich Respekt erworben.

Er spricht von "Beharrungsvermögen". Mit den Jahren hat er sich in die Juristensprache eingearbeitet und weiß es im Zweifel genauso gut wie die angestellten Hausjuristen, denen er Tantiemen für die vielen neuen Mediatheken abhandeln muss. Frickel zitiert aus dem Gutachten des ehemaligen Verfassungsrichters Paul Kirchhof, der dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk immerhin die so genannte Haushaltsabgabe eingebracht hat. Die öffentliche Finanzierung, heißt es da, erlaube dem Rundfunk, ein Programm "unabhängig von Einschaltquoten und Werbeaufträgen" zu bieten, im Extremfall bedeute das, denkt Frickel konsequent weiter, dass ARD und ZDF auch für null Zuschauer senden könnten. Das will zwar keiner, aber was Frickel sagen will: Die Quote steht nicht im Grundgesetz.

Oder er rechnet nach: Sportrechte machen 27 Prozent des Sender-Budgets aus, füllen aber nur acht Prozent des Programms. Auf den Gebühren-Euro kämen bei der Übertragung der Europa League ganze zwei Zuschauer, bei Dokumentarfilmen aber achtzig. Ist das etwa vernünftiges Wirtschaften?

Aber wer will das schon hören? Tom Buhrow, der Intendant des WDR, der die Vorverträge mit Gottschalk aus der Zeit vor seiner Zeit erklären und aufklären musste, hat Frickel bei seinem Amtsantritt vor zweieinhalb Jahren ein Gespräch zugesagt. Vor Kurzem darauf angesprochen, habe Buhrow ihn auf die Zeit nach seinem Urlaub vertröstet. So ein Urlaub dauert manchmal ganz schön lang.

Die Verbandsarbeit will Thomas Frickel nicht sein Leben lang machen, aber doch so lang, bis er dem Dokumentarfilm angemessene Sendeplätze im öffentlich-rechtlichen Fernsehen erkämpft hat. Angemessen, wie er es versteht. Er träumt sogar von etwas "ganz und gar Sensationellem": einer fairen Bezahlung.

Es bleibt dabei: Frickel nervt. Wenigstens einer.

Anmerkung: In dem Text steht die Aussage über die ARD, "Sportrechte machen 27 Prozent des Sender-Budgets aus". Das ist falsch. Sportrechte haben nach Angabe der ARD in den Jahren 2011 bis 2014 rund vier Prozent des Budgets der ARD ausgemacht.

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