Amazon:Wenn Arbeit alles ist

Streiks Amazon Bad Hersfeld

Amazon - ein fordernder oder ein fairer Arbeitgeber?

(Foto: dpa)
  • Auch Mitarbeiter von Amazon Deutschland klagen über immensen Druck und Leistungsüberwachung.
  • Wird in der digitalen Epoche, die Konzerne wie Amazon mitbestimmen, der Umgang mit Beschäftigten insgesamt rauer?

Von Alexander Hagelüken, Pia Ratzesberger, München und Claus Hulverscheidt, New York

Die Aufforderung kommt ganz plötzlich. Von jetzt auf gleich soll der missliebige Beschäftigte dann ins Büro des Chefs, erzählt eine langjährige Mitarbeiterin über das, was sie bei Amazon Deutschland erlebt hat.

Einfach feuern kann man jemanden, den man für leistungsschwach hält, in der Bundesrepublik nicht. Aber der Chef hat einen Aufhebungsvertrag auf den Tisch gelegt. Er hält den Beschäftigten an, das Papier gleich zu unterschreiben. Rechtlich gesehen muss das keiner tun. "Aber die Betroffenen sind natürlich meistens eingeschüchtert", sagt Sabine Schmidt (Name geändert), die solche Fälle mehrfach mitbekommen hat.

Die Effizienzmaschine Amazon wird mal wieder gestört

Graben bei Augsburg. In Halle C des Versandzentrums ist das Knattern des Förderbandes zu hören, das ohne Ende Waren voranschiebt. Ein Dutzend Mitarbeiter sortieren Produkte aus meterhohen Paletten in diese gelbe Kisten, die sich durch das Zentrum ziehen wie Gummischlangen.

Von Schwimmreifen über Schraubenzieher bis zu selten gefragten Büchern über Olympia 1972 halten sie eine beeindruckende Vielfalt bereit, die ein Kaufhaus nie bieten kann - rund um die Uhr bestellbar, sofort geliefert. Doch diese Woche störte mal wieder etwas die Effizienzmaschine des inzwischen größten Versandhändlers der Welt.

Diesmal ging es nicht um die Packer in den Logistikzentren, an deren Arbeitsbedingungen es öfter Kritik gibt. Die New York Times berichtete nach langer Recherche vom zuweilen gnadenlosen Umgang mit Verwaltungsleuten und Führungskräften von Amazon USA: von Überwachung und Einsatz rund um die Uhr, vom Anschwärzen der Kollegen über das "Anytime Feedback Tool", vom Sammeln unzähliger Daten über die Leistung, vom Rausdrängen von Kranken und vermeintlichen Minderleistern.

Das wirft die Frage auf, wie es bei der deutschen Tochter mit ihren mehr als 12 000 Mitarbeitern zugeht. Und daraus erwächst eine andere Frage: Wird in der digitalen Epoche, die Konzerne wie Amazon mitbestimmen, der Umgang mit Beschäftigten insgesamt rauer?

"Amazon stellt Menschen ein, beutet sie aus bis zum bitteren Ende und wirft sie dann weg", klagt Thomas Schneider von der Gewerkschaft Verdi. Auch in Deutschland berichteten Mitarbeiter der Firma aus höheren Ebenen über immensen Druck. Am Telefon, anonym.

183 000 Mitarbeiter

und mehr sind heute bei Amazon weltweit beschäftigt, in Voll- und Teilzeit. In Deutschland arbeiten für das Unternehmen mehr als 12 000 Menschen.

Doch lässt sich dieser Befund verallgemeinern? Beim Besuch im Versandzentrum Graben im Juli zeichnen Führungskräfte von Amazon ein anderes Bild, etwa der 38-jährige Markus Neumayer aus der Geschäftsführung. Auf dem Rundgang über das Gelände winkt er den Kollegen zu, manchmal bleibt einer stehen, um sich zu unterhalten. Es wirkt nicht aufgesetzt oder einstudiert. "Wir machen hier viel zusammen, vor allem die Führungskräfte treffen sich auch in der Freizeit, grillen zum Beispiel", erzählt Neumayer.

"Das entspricht nicht unserer Firmenpolitik"

Werden missliebige Mitarbeiter eingeschüchtert, Aufhebungsverträge zu unterschreiben? "Das entspricht nicht unserer Firmenpolitik", sagt Pressechefin Christine Höger. Wenn solche Fälle bekannt würden, werde man Schritte einleiten. Ja, es gebe bei Amazon "wie überall" Phasen, in denen man mehr arbeite, weil ein bestimmtes Ziel erreicht werden müsse.

"Aber das gleicht sich aus, mit den ruhigen Phasen, in denen man wieder früher nach Hause geht." Christine Höger sagt, sie sei seit 14 Jahren bei Amazon. Und wäre sicher längst gegangen, wenn nur die Hälfte zuträfe, was jetzt über ihr Unternehmen behauptet werde.

Auch Sabine Schmidt arbeitet schon lange für die deutsche Tochter in der Verwaltung, über zehn Jahre. Es ist ihr wichtig zu betonen, dass sie bei Amazon mitnichten alles schlecht findet. So gebe die Firma Uni-Abbrechern oder Bewerbern mit überdimensionierten Tattoos eine Chance, die anderswo Schwierigkeiten hätten. Vorgesetzte sparten zwar nicht mit Kritik, aber es gebe auch überschwängliches Lob, das den Mitarbeitern vermitteln solle, Teil einer globalen Elite zu sein.

Ohnehin schützt das deutsche Arbeitsrecht Mitarbeiter besser als in den USA. Aber: "Es wird schon versucht auszuloten, wie viel Druck die deutschen Gesetze auf den einzelnen Mitarbeiter zulassen", sagt Schmidt.

Unter Mitarbeitern gilt: potentiell langwierige Krankheiten verschweigen

Wie stark das auffalle, hänge maßgeblich vom Standortleiter ab. In Schwierigkeiten geraten Mitarbeiter demnach, wenn sie Unsicherheit zeigen oder krank werden. Wer den eigenen Chef zu oft um Rat fragt, gelte als jemand, der die Firma zu viel koste und deshalb bald zu feuern sei. Das ist zumindest bei Neulingen möglich, die häufig nur Zeitverträge erhalten.

Nach einer Krankheit könne es passieren, dass man zu einem Rückkehrgespräch gebeten wird, so Schmidt. "Dabei muss man natürlich nicht sagen, was man hatte. Man wird aber schon bedrängt, nach dem Motto: Wir sind doch unter uns!"

Unter Mitarbeitern sei es ungeschriebenes Gesetz, potenziell Langwierigeres wie einen Bandscheibenvorfall oder gar psychische Probleme zu verschweigen. Wer das nicht tue, laufe Gefahr, als nicht mehr voll leistungsfähig eingestuft zu werden - und dann kaltgestellt oder gar rausgedrängt zu werden.

Sprecherin Höger erklärt, "selbstverständlich" müsse niemand Krankheiten offenlegen. Es gebe nur das gesetzlich vorgeschriebene Eingliederungsmanagement nach sechs Wochen Krankheit - mit dem Zweck, weitere Ausfallzeiten zu vermeiden. Sie weist auch Sabine Schmidts Behauptung zurück, Mitarbeiter seien zumindest eine Weile aufgefordert worden, Kollegen anzuschwärzen, die vermeintlich nicht genug leisteten.

Ja, das "Anytime Feedback Tool" gebe es auch in Deutschland - aber mit dem Ziel, Mitarbeitern konstruktive Rückmeldungen durch konkrete Beispiele zu geben. "Der überwiegende Teil dieses Feedbacks ist positiv."

Ein offenes Klima also? Nach den US-Enthüllungen forderte Konzernchef Jeff Bezos seine Mitarbeiter auf, ihm Missstände persönlich zu melden. Sabine Schmidt lacht: "Ich würde ihm nie eine E-Mail schreiben", sagt sie. "Das kann doch nur nach hinten losgehen!" Verdi-Funktionär Schneider berichtet, im Versandzentrum Leipzig seien zuletzt auffällig viele Manager gegangen. Und zwar gerade jene, die sich für ihre Mitarbeiter einsetzten.

Amazon hat Bedeutung für sehr viele Arbeitnehmer

Ist Amazon in Deutschland ein fordernder, doch fairer Arbeitgeber? Oder werden Beschäftigte wirklich in vielen Fällen zu hart angegangen? Es wird wohl eine Weile dauern, ein ganz klares Bild zu gewinnen.

Was dabei herauskommt, hat Bedeutung für sehr viele deutsche Arbeitnehmer. Denn beim Internetgiganten aus Seattle, der weltweit den Verkauf von Waren aufrollt, werden viele Daten auch über Mitarbeiter erfasst. Weil die Packer in Versandzentren mit Handscannern arbeiten, kann der Konzern zum Beispiel feststellen, ob jemand auch nur eine Minute heimlich Pause macht. Ob solche Daten benutzt werden, darüber streitet Amazon mit Gewerkschaftern. In jedem Fall könnten solche Entwicklungen ein Vorbote dafür sein, wie sich die Berufswelt insgesamt verändert - zum Beispiel hin zu mehr Überwachung und ständiger Leistungsmessung. Die Frage ist etwa, ob dies vor allem Berufe mit vielen gering Qualifizierten wie Verkäufer bei Discountern betrifft. Oder ob sich auch Büroangestellte darauf einstellen müssen.

Der Siegeszug des Digitalen erweitert das Repertoire von Firmen

Viele Fachleute sind sich einig: Der Siegeszug des Digitalen erweitert das Repertoire. "Die neue Technik bietet viele Kontrollmöglichkeiten", sagt Thomas Rigotti, der an der Uni Mainz einen Lehrstuhl für Arbeitspsychologie besetzt. Wann loggt sich jemand in den Computer ein, was genau tippt er - alles erfassbar, wenn auch bei uns nur teils legal einsetzbar.

Andere Forscher glauben nicht, dass Überwachung zur Massenbewegung wird. Es werde wie bisher vom Führungsstil abhängen, was die Mitarbeiter zu erwarten haben.

Alexander Spermann vom Institut zur Zukunft der Arbeit in Bonn verweist auf die unterschiedlichen Modelle bei Drogerieketten: kooperativ wie bei dm, sehr hierarchisch und auf Überwachung setzend wie bei Schlecker, wo Kameras in Pausenräumen und auf Toiletten eingesetzt wurden. Aus der Perspektive der Firmen funktionierten beide Modelle. "Deshalb wird es immer Unternehmen geben, die auf Überwachung setzen."

Je zahlengetriebener ein Unternehmen sei, je mehr es unter der Fuchtel des Kapitalmarkts stehe, desto eher lasse es sich dazu verleiten, Kennziffern aller Art über die Mitarbeiter zu erheben. Dabei entstünde oft viel Datenmüll: Die wahre Leistung sei oft nicht leichter erkennbar als vorher.

Klare Einteilung der Mitarbeiter: 20 Prozent top, 70 mittel, zehn schlecht

Myriam Bechtoldt von der Frankfurt School of Finance beobachtet, dass Firmen durch die Globalisierung unter unglaublicher Belastung stehen. "Dass Arbeit messbar gemacht wird, ist ein Trend, der überall zu spüren ist." So würden Leistungsziele definiert, die nicht immer zu schaffen seien.

Ein Betriebsrat einer prominenten Softwarefirma berichtet von Zielvorgaben, die jährlich um mehr als zehn Prozent steigen - mehr als die Produktivität hergibt. Neue Technologien ermöglichten es Firmen leichter, Mitarbeiter unter Druck zu setzen, sagt Professorin Bechtoldt. "Man kann Leute triezen. Dadurch leisten sie auch mehr. Angst ist ein Motivationsfaktor." Ob das nachhaltig sei, bleibe fraglich.

Ein Beispiel für die immer stärkere Leistungsmessung bietet die Finanzbranche. Teilweise werden Mitarbeiter täglich danach beurteilt, wie viele Fonds sie verkauft haben, berichtet ein früherer Angestellter einer deutschen Großbank. Er hat sich inzwischen selbständig gemacht: "Der Bank geht es nur noch um den Erfolg, nicht um die Kunden oder die Mitarbeiter."

Von US-Firmen schwappt ein Konzept nach Deutschland, als dessen Urvater Jack Welch gilt, Ex-Patriarch des Konzerns GE: die Einteilung der Beschäftigten in Gruppen, etwa: 20 Prozent top, 70 mittel, zehn schlecht. Solche Rankings werden auch in Deutschland gemacht, sagt Professor Rigotti. "Wenn die Firma mit Mühe die Daten erhoben hat, wäre es für sie Blödsinn, die nicht zu nutzen." Sie könne dann versuchen, die Mitarbeiter in der schlechteren Gruppe zu verbessern - oder sie rauszudrängen. "Auch das Rausdrängen wird praktiziert", sagt er. Und zwar am ehesten bei Stellen, die leichter ersetzbar sind.

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