Flüchtlingsdebatte:Merkel ist egal, ich mach das selber!

Ein Kind sitzt in Berlin vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales.

Ein Kind sitzt in Berlin am Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo).

(Foto: dpa)

Der Staat kommt mit den vielen Flüchtlingen nicht alleine klar. Nun müssen wir Bürger einspringen. Das ist nicht nur notwendig, sondern eine riesige Chance.

Von Hannah Beitzer, Berlin

Seit Wochen geht das so in Berlin: Hunderte Flüchtlinge warten vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales, dem Lageso, in der Turmstraße im Berliner Stadtteil Moabit. Es ist heiß, es gibt nicht genug zu essen. Viele wissen nicht, wo sie die Nacht verbringen sollen. Schwangere, Kinder, Kranke, Verzweifelte stehen in der Schlange. Es sind Szenen, die sich noch vor ein, zwei Jahren keiner hätte vorstellen können in Deutschland, Szenen, die einem die Tränen in die Augen treiben.

All das könnte noch viel schlimmer sein, gäbe es nicht die vielen freiwilligen Helfer und Helferinnen, die hier tun, was die Behörden nicht schaffen. Essen ausgeben, Kleider sammeln, Schlafplätze organisieren, Trost spenden. "Moabit hilft" heißt die Initiative, der sich inzwischen hunderte Berliner angeschlossen haben - und die immer wieder über die mangelnde Unterstützung der Politik klagt.

"Staatsversagen" ist das, urteilt ein Journalist der taz, der hier vom Journalisten zum freiwilligen Helfer wurde. Er hat recht: Der Staat kommt sehr offensichtlich nicht mehr klar mit den vielen Flüchtlingen, die ihr Leben riskieren, um nach Deutschland zu kommen. Und die dann hier stehen, vor überforderten Behördenvertretern, hungrig, müde, traumatisiert. Der Staat braucht die Freiwilligen.

Was macht eigentlich die Bundesregierung?

Was vor einem Jahren noch Empörung auslöste - Flüchtlinge schlafen auf dem Boden! In notdürftig aufgeschlagenen Zelten, in überfüllten Turnhallen! - ist jetzt beinahe Normalität. Nicht nur in Berlin, sondern in vielen deutschen Städten.

Da drängt sich eine Frage auf: Was macht eigentlich die Bundesregierung? Kanzlerin Angela Merkel zum Beispiel ist am Montag die Gastgeberin eines Treffens mit dem französischen Präsidenten François Hollande. Es soll dabei um sogenannte "Hotspots" für Flüchtlinge in Italien und Griechenland gehen. Merkel verhandelt schon seit Monaten mit den anderen europäischen Staaten über eine Quote zur Verteilung von Flüchtlingen in Europa. Bisher vergeblich. Den vielen Flüchtlingen vor dem Lageso in Berlin und anderswo bringt das erst einmal natürlich nichts.

Und den freiwilligen Helfern, die einspringen, wo der Staat nicht mehr alleine zurecht kommt, kann das schon einmal wie blanker Hohn vorkommen. Wen interessiert schon irgendeine Quote, wenn mitten in Deutschland Schwangere keinen Platz zum Schlafen finden? Ebenso die Äußerungen von Innenminister Thomas de Maizière. "Vielleicht werden wir ein Land, das wieder mehr lernt, zu improvisieren", sagte der während eines Besuchs in einem überfüllten Erstaufnahmelager in Eisenhüttenstadt.

Einmischen!

Doch ein bisschen hat er auch recht, der Innenminister. Es ist wichtig, dass Menschen sich engagieren, sich einmischen und das, was vor ihrer Tür passiert, ändern, wenn es ihnen nicht richtig erscheint. Nicht immer kann und soll da der Einzelne warten, bis die Politik auf Notlagen reagiert, Regeln neu verhandelt, Gesetze ändert, Geld zur Verfügung stellt. Denn diese Prozesse dauern in einer Demokratie manchmal zu lange, um Menschen als Menschen zu behandeln und nicht als Zahlen in einer Statistik.

Das wichtigste ist aber, dass die Menschen mit ihren Taten auch die Möglichkeit haben, diese Prozesse mitzugestalten. Sie können sie nicht nur beschleunigen, sondern auch ihre Richtung beeinflussen. Das zeigte sich auf traurigste Weise vor 20 Jahren, als der Bundestag das Asylrecht aus Angst vor dem Unmut der Bürger, als Reaktion auf braunen Terror und Gewalt, faktisch abschaffte.

Heute zeigt jeder Freiwillige, der vor dem Lageso und anderswo Flüchtlingen hilft, dass es an der Zeit ist, diese fatale Entscheidung zu revidieren. Dass Abschreckung die falsche Lösung ist. Nämlich gar keine. Dass Deutschland heute ein anderes Land ist als damals. Dass es zwar immer noch braunen Terror gibt, aber auch eine ganze Menge Leute, die sich in Taten und Worten dagegen stellen.

Die Bürger zeigen der Politik so, wo es langgeht. Bleibt die Hoffnung, dass sie auch folgt.

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